Tod im Schärengarten
hatte aufgestellt werden können. Eine Flut halb verwelkter Blumen bedeckte den Erdhügel.
Er sah Martins Gesicht vor sich. Das liebe, vertraute Gesicht, in dem er jede Linie, jede Lachfalte kannte.
Trotzdem wusste er, dass es nicht Martin war, der dort unten lag. Es war nur die Hülle, die man in die Erde gesenkt hatte, die fleischlichen Überreste des Menschen, den man tief geliebt hatte.
Er hatte so viel Zeit vergeudet.
Zuerst eine lange Periode, in der er aus der Ferne verliebt gewesen war. Dann eine Zeit jubelnden Glücks, als sie heimlich ein Verhältnis hatten.
Er hatte mit dem Gedanken gespielt, seine Liebe offen zu zeigen und Isabelle zu verlassen. Aber er hatte sich vor der Reaktion seiner Umgebung gefürchtet. Davor, wie sie ihn verurteilen würden, wenn die Wahrheit ans Licht kam. Er hatte sich hinter falscher Rücksichtnahme auf Isabelle versteckt und jedes Mal die Kinder vorgeschoben, wenn Martin auf eine Entscheidung drängte.
War das seine Strafe dafür, dass er sich nicht getraut hatte, zu ihrer Beziehung zu stehen? Dafür, dass er nicht den Mut gehabt hatte, den letzten Schritt zu tun?
Wer sollte ihn jetzt liebevoll bei seinem alten Spitznamen nennen, ihrem kleinen gemeinsamen Geheimnis? Dieser Name, der von seinem Lieblingsspiel als kleiner Junge herrührte, von dem Indianerkostüm mit Federn, das er dauernd getragen hatte. Erst riefen ihn die Kameraden »Indianer«, später wurde dann »Indi« daraus.
Jetzt gab es nur noch Ingmar. Den feigen, unglücklichen Ingmar, dem der einzige Mensch geraubt worden war, den er jemals geliebt hatte.
Was sollte er jetzt machen?
Er betrachtete den Ehering am linken Ringfinger. Das Symbol einerfast dreißigjährigen Beziehung, die ihn nie glücklich gemacht hatte. Er trug ihn immer noch, ebenso in den Konventionen gefangen wie immer. Obwohl seine Ehefrau mit kalter Berechnung seinen Liebsten getötet hatte.
Mit einer hastigen Bewegung zog er den Ring vom Finger und warf ihn weit hinein ins Gebüsch.
»Du bist die große Liebe meines Lebens«, flüsterte er still und blickte auf den Erdhügel vor sich. »Ich werde dich immer lieben, Martin. Immer.«
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Kapitel 91
Eva Timell ließ den Sicherheitsgurt einrasten und lächelte der hübschen Stewardess zu, die ihr ein Tablett mit gefüllten Gläsern hinhielt.
Sie nahm ein Glas Champagner und nippte vorsichtig. Das frische, trockene Getränk kribbelte dezent auf der Zunge, genau wie es sollte.
Wer hatte noch behauptet, Champagner müsse kalt, trocken und gratis sein? Churchill oder vielleicht de Gaulle? Wie auch immer, es war jedenfalls gut gesagt.
Sie hob das Glas und prostete Blofeld zu, der ängstlich miauend in seinem Käfig auf dem Sitz nebenan hockte. Im Stillen dankte sie den neuen EU – Regeln, die es erlaubten, dass geimpfte Tiere innerhalb der Gemeinschaft reisen durften. Sie hätte es nicht ertragen, ihn sechs Monate lang in Quarantäne zu geben, ebenso wenig wie sie ihn in Schweden hätte zurücklassen können.
Die Stewardess kam vorbei und fragte, ob sie nachschenken dürfe. Eva schüttelte den Kopf, für den Moment hatte sie genug.
Business Class. Sie liebte die Business Class. Es war extravagant, absolut, aber in Liechtenstein hatte sie Millionen von guten Gründen, sich diesen kleinen Luxus zu erlauben.
Der Bankangestellte, mit dem sie telefoniert hatte, war äußerst zuvorkommend gewesen. Es war kein Problem, einen Termin zwecks Umdisponierung des Guthabens zu vereinbaren. Jederzeit gern, Frau Timell. Wann immer es Frau Timell recht ist.
Gegen Ende des Telefonats hatte er sich erlaubt, sie an den zehnstelligen Code zu erinnern, den sie dabeihaben musste, um Zugang zum Konto zu bekommen.
Natürlich würde sie den Code mitbringen. Das verstand sich doch von selbst.
Oscar mochte ja ein brillanter Insolvenzverwalter gewesen sein, aber vor ihr hatte er nichts geheim halten können. Sie, die ihn besser kannte als seine Mutter und die sein Leben seit Jahren organisiert hatte.
Vor ein paar Wochen war sie seine ganzen Fälle durchgegangen und hatte alle Dokumente und Vorgänge archiviert. Zum Schluss hatte sie seinen großen Schreibtisch aufgeräumt, dessen Verzierungen und vergoldeten Beschläge sie an Oscars Vorliebe für das Pompöse erinnerten. Sorgfältig hatte sie alle Schubladen geleert und ausgewischt. Schließlich kam sie zum Geheimfach, das so typisch für alte Schreibtische war. Oscar hatte es ihr stolz gezeigt, als der Schreibtisch von der Auktionsfirma geliefert worden
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