Tod im Schärengarten
sagen.«
Thomas verspürte den irrationalen Impuls, Henrik anzurufen und ihm gehörig die Meinung zu sagen. Nora hatte ein außergewöhnlich schweres und anstrengendes Jahr hinter sich. Schon letzten Sommerhatte es in der Beziehung geknirscht, aber Thomas hatte geglaubt, dass sich das nach den dramatischen Ereignissen auf Grönskär wieder einrenken würde. Wie Henrik die Stirn haben konnte, sie so unter Druck zu setzen, war ihm unbegreiflich. Aber das sagte er natürlich nicht. Das Wichtigste war im Moment, dass Nora sich wieder beruhigte. Es hatte keinen Sinn, wütend zu werden, schon gar nicht, wenn die Jungs in der Nähe waren.
Er riss noch mehr Küchenpapier ab und Nora sah ihn unter der Tränenflut dankbar an.
»Wenn ich so weitermache, hast du bald kein Küchenpapier mehr.«
»Keine Sorge. Vielleicht war es ganz gut, dass Henrik weggefahren ist. Wenn er sich wieder beruhigt hat, sieht er vielleicht ein, dass er überreagiert hat.«
»Meinst du?«
»Ist doch klar, dass er den Verkauf nicht durchsetzen kann, wenn du absolut nicht willst. Das weißt du. Und er liebt dich. In der Hitze des Gefechts sagt jeder mal Dinge, die er nicht so meint.«
»Hoffentlich«, sagte Nora mit zitternder Stimme.
Sie strich sich die rotblonden Haare aus dem Gesicht und wischte sich die Tränen ab. Ihre graublauen Augen waren verquollen, aber sie blickten jetzt wieder etwas zuversichtlicher. Trotzig schob sie die Ärmel ihres hellblauen Pullovers hoch und schnäuzte sich noch einmal ordentlich in das Küchenpapier.
»Wir kennen Henrik doch beide«, sagte Thomas aufmunternd. »Er kann manchmal ein richtiger Hitzkopf sein, aber er würde dir nie mit Absicht Kummer zufügen wollen.«
Insgeheim war Thomas sich da zwar nicht so sicher, Henrik hatte einen egoistischen Zug an sich, den Thomas von Monica Linde wiedererkannte. Aber es war keine gute Idee, Öl ins Feuer zu gießen. Jedenfalls nicht im Moment.
»Du musst jetzt vor allem erst mal auf andere Gedanken kommen, damit du Abstand gewinnst. Das renkt sich wieder ein, du wirst sehen. Henrik wird schon zur Vernunft kommen.« Er umarmte sie fest.
Nora sah ihn dankbar an und versuchte, sich zu sammeln.
»Ich bin also kein selbstsüchtiges Monster? Das ist nicht alles bloß meine Schuld?« Auf ihrem Gesicht lag ein bittender Ausdruck. »Es ist ja nicht nur meinetwegen, dass ich mich so gegen einen Verkaufwehre. Irgendwann wollen die Jungs vielleicht einmal jeder ein Haus auf Sandhamn haben. Es geht ja auch um ihre Zukunft.«
Sie schwieg einen Moment und trank einen Schluck Kaffee, bevor sie weitersprach.
»Allein schon bei dem Gedanken an diese protzigen Schweizer dreht sich mir der Magen um. Stell dir vor, ich müsste sie jeden Tag sehen, durchs Küchenfenster.«
»Ist es so schlimm?«
»Du machst dir keinen Begriff. Nie im Leben würde ich das ertragen. Ganz egal, wie viel sie bezahlen.«
Nora war eine Kämpferin, kein Zweifel. Sie würde das hier auch überstehen, da war Thomas sich ganz sicher.
»Du bist so lieb, weißt du das?«, fuhr sie fort. »Ich war völlig verstört, als ich heute Morgen aufgewacht bin. Ich musste das unbedingt loswerden.«
Sie blickte auf die Tischplatte, wo ihr Zeigefinger ganz von selbst kleine Achten malte. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr und stand auf.
»Ich muss mal nach den Jungs sehen. Wir sitzen hier ja schon eine ganze Weile.«
In ihrer Stimme lag noch Wehmut, aber auch ein Ton, der vorher nicht dagewesen war.
»Ich werde das schon wieder hinkriegen. Es gibt immer einen Weg, nicht wahr?«
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Kapitel 56
Wie üblich stand das Zauntor offen. Henrik bog auf den vertrauten Sandweg ein, und nach den ersten hundert Metern öffnete sich die Landschaft und der Kiefernwald wurde von einer großen Wiese abgelöst, auf der ein Dutzend Apfelbäume standen.
Das Sommerhaus seiner Eltern lag auf einem kleinen Vorsprung direkt am Wasser. Hier hatte Henrik seit seiner Kindheit jeden Sommer verbracht. Sein Großvater hatte das Anwesen in den Vierzigerjahren gekauft, ein Landsitz, der Platz für Kinder, Enkelkinder und viele Gäste bot. Damals war es nicht üblich gewesen, ein Ferienhaus auf Ingarö zu haben, das kam erst sehr viel später in Mode.
Ende der Siebziger war das Haus abgebrannt. Einbrecher hatten sich über Nacht einquartiert und offenes Feuer gemacht, um sich zu wärmen, und dabei war es passiert. Henrik war damals ein kleiner Junge, aber er konnte sich noch gut erinnern, wie bestürzt seine Großeltern gewesen waren.
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