Tod im Staub
fortschrittlich gesinnt, daß es am Abend so gut wie feststand, daß alle dem Vorschlag des weisen alten Schafs folgen und am Morgen bei dem gefährlichen Experiment mitmachen würden.
Als das weise alte Schaf diesen Stimmungsumschwung merkte, bekam es Gewissensbisse. Wenn es sich nun doch irrte und sie alle von den gräßlichen Metallungeheuern getötet würden?
Endlich schliefen die anderen ein, und es beschloß, allein auf den Damm zu gehen und sich auf dem feindlichen Gebiet genau umzusehen. Falls es irgend etwas Alarmierendes bemerkte, würde es das Experiment abblasen.
Es war schwieriger, die Höhe des Damms zu erreichen, als es angenommen hatte. Es mußte Drahtsperren überwinden, einen steilen Abhang hochklettern und sich durch Stechginsterbüsche hindurchkämpfen. Das weise alte Schaf war nicht an derartige Anstrengungen gewöhnt. Als es die Höhe des Damms erreicht hatte, bekam es einen Herzanfall und starb.
Die Herde wachte am Morgen auf und entdeckte bald die über den Rand herabhängenden Hinterbeine des weisen alten Schafs. Man hielt Rat. Es wurde beschlossen, zu Ehren seines Angedenkens den Versuch durchzuführen.
Als das erste gräßliche Metallungeheuer aus der Ferne zu hören war, rührte sich kein Schaf vom Fleck. Das gräßliche Metallungeheuer donnerte heran, prallte gegen die Leiche des weisen alten Schafs, stürzte vom Damm herunter und tötete alle Schafe.«
Die Geschichte war mir ein Rätsel. »Was geschah dann?« fragte ich den Gesichtslosen.
»Das Gras auf dem Feld wuchs wieder hoch.«
Ich verließ ihn, das heißt, ich ließ ihn von der Straße davonwirbeln. Jetzt glitten die Häuser schneller vorbei. Aber es wirkte nicht so, als ob ich an ihnen vorbeieilte, denn auch ich wurde ja gleichzeitig weitergetragen, wenn auch langsamer als sie.
Die Besessenheit hielt mich wieder in ihren Klauen und zwang mich, eine alte Frau anzusprechen, die sich auf einen Stock stützte. Ihre Augen waren geschlossen, aber vielleicht hatte sie nur Augenlider und keine Pupillen darunter; was immer auch der Grund sein mochte, sie sah mich nicht ein einziges Mal an, während ich vor ihr stand.
»Ich verstehe nichts«, sagte ich. »Ich weiß nur, daß es überall Leid gibt. Warum leiden wir, alte Frau?«
»Ich will dir eine Geschichte erzählen«, sagte sie. Obwohl wir nebeneinander standen, sprach sie so leise, daß ich ihre wahnwitzigen Worte kaum verstehen konnte.
»Als der Teufel ein Kind war, wurde er von allem Wissen über die bitteren Dinge dieser Welt sorgfältig ferngehalten. Er durfte nur die glücklichen Dinge kennenlernen. Sünde, Unglück, Häßlichkeit, Krankheit, Alter - all das hielt man vor ihm geheim.
Eines Tages entwischte der Teufel seiner Kinderfrau und kletterte über die Gartenmauer. Neugierig und aufgeregt wanderte er in den Straßen umher, bis er einen vom Alter gekrümmten Mann traf. Der Teufel blieb stehen und betrachtete ihn.
›Warum starrst du mich an?‹ fragte der alte Mann. ›Man könnte fast denken, daß du noch nie einen alten Mann gesehen hast.‹
Der Teufel sah, daß seine Augen trüb waren, sein Mund schlaff und seine Haut von Falten zerfurcht war.
›Was ist denn dir passiert?‹ fragte er.
›Das, was jedem passiert. Es ist eine unheilbare Krankheit, die Zeit heißt.‹
›Aber was hast du verbrochen, daß man dich mit dieser Krankheit geschlagen hat?‹
›Nichts. Ich habe mich betrunken, ich habe ab und zu gelogen, ich habe mit hübschen Mädchen geschlafen, ich habe nicht mehr gearbeitet, als ich unbedingt mußte. Aber all dies sind keine Verbrechen. Die Strafe ist schwerer als das Verbrechen, junger Mann.‹
›Wann wirst du wieder gesund werden?‹ fragte der Teufel.
›Hinter mir kommt ein Leichenzug. Sieh ihn dir an! Das ist der einzige Weg, wie ich meine Krankheit loswerden kann‹, lachte er.
Der Teufel wartete, bis der Leichenzug herankam. Er kletterte auf einen Baum, der an der Straße stand, und als die Prozession vorbeiging, blickte er genau in das Gesicht des Toten hinunter.
Obwohl auch der Tote ein alter Mann war, sah er tatsächlich viel friedlicher und nicht so geplagt aus wie der alte Mann, mit dem der Teufel gesprochen hatte. Anscheinend war er wirklich geheilt, wie der alte Mann es gesagt hatte. Der Teufel folgte dem Trauerzug zum Friedhof, weil er sehen wollte, was weiter geschah.
Zu seiner Überraschung wurde die Leiche in eine Grube gelegt und begraben. Er blieb, bis alle gegangen waren, und eine seltsame Ahnung, daß irgend etwas
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