Tod im Staub
erlaubten, daß ich mit ihm sprach, bevor er an mir vorbeiglitt, weil seine Augen verborgen waren.
Als die Straße uns aufeinander zutrug, rief ich ihm zu: »Wie war die Welt, die ich verlassen habe? Ich muß es wissen, um wieder frei zu sein.«
Er sagte: »So kennst du also nicht die Geschichte von den Schafen und die von den Ziegen? Ich kann dir nur die von den Schafen erzählen. Du mußt jemand anderes finden, der dir auch die Geschichte von den Ziegen erzählt.«
Ich konnte ihn kaum verstehen, denn wir schienen schneller als der Wind dahinzugleiten. Vielleicht schlug ich ihn sogar, aber ich konnte sein Gesicht hinter dem Rauchvorhang niemals erkennen, und ohne meine Antwort abzuwarten, begann er die Geschichte von den Schafen zu erzählen, und er leierte sie so mechanisch herunter, daß ich annahm, er sei dazu verurteilt, sie seit undenklichen Zeiten unzählige Male wiederholen zu müssen.
»Es war einmal eine große Weide mit vielen Schafen«, sagte er. »Viele Schafe hatten Lämmer, und alle waren gedankenlos glücklich. Sie hatten keine Sorgen, weder finanzieller, familiärer, moralischer noch religiöser Art, und die Weide war gut.
Das einzige, was sie störte, war die Eisenbahn. Auf der Seite des Feldes, wo sie am liebsten lagen, war ein Damm, auf dem die Dieselzüge entlangfuhren.
Jeden Tag fuhren zwölf Dieselzüge auf dem Damm entlang. Sie hielten niemals an, denn es gab nichts, weswegen sie hätten anhalten sollen, und sie ließen nie ihre Warnsirenen aufheulen, denn es gab nichts, weswegen die Warnsirenen hätten aufheulen sollen. Aber sie fuhren sehr schnell und ratternd vorbei.
Jedesmal wenn ein Zug vorbeiraste, waren die Schafe und die Lämmer gezwungen, aufzustehen und vom Damm weg auf die gegenüberliegende Seite des Feldes zu rennen, weil sie Angst hatten, der Zug würde sie zerschmettern. Es dauerte immer lange, bis sie wieder in Ruhe grasen konnten, nachdem der Zug vorbei war, so verstört waren sie.
Eines der ältesten Schafe auf dem Feld war beträchtlich klüger als die anderen. Eines Tages, als sie alle in wilder Flucht zum zwölften Male quer über das Feld gerannt waren, wandte es sich an die Herde.
›Meine Freunde‹, sagte es, ›ich habe den Weg, dem diese gräßlichen Metallungeheuer folgen, wenn sie durch unsere Weiden rasen, sorgfältig studiert. Ich habe beobachtet, daß sie niemals vom Damm herunterkommen. Wir sind - mit gewisser Berechtigung - immer stolz darauf gewesen, daß wir so schnell davongerannt sind, daß die gräßlichen Metallungeheuer uns nie erwischen konnten. Aber ich möchte, daß ihr eine gänzlich neue Theorie überdenkt, die sich auf meine Beobachtungen stützt. Freunde, wenn nun die gräßlichen Metallungeheuer nicht vom Damm herunterkommen können ?‹
Darauf erhob sich spöttisches Gelächter, besonders von denen, die am schnellsten rennen konnten. Unbeeindruckt fuhr das alte weise Schaf fort:
›Bedenkt, welche Schlußfolgerungen sich ergeben, wenn meine Theorie stimmt. Falls die gräßlichen Metallungeheuer nicht vom Damm herunterkommen können, dann machen sie auch nicht Jagd auf uns. Es ist sogar möglich, daß ihr Wahrnehmungsvermögen so fremdartig ist, daß sie uns nicht einmal bemerken, wenn sie vorbeirattern.‹
Das war so neu und überraschend, daß alle sofort zu blöken anfingen. Wenn diese Hypothese zuträfe, so führten einige Schafe aus, würde das besagen, daß die Weide und sie selbst in der Ordnung der Dinge keine zentrale Rolle spielten, und das sei eine unerträgliche Ketzerei, die eine Bestrafung erfordere. Dem widersprachen die schnellfüßigsten Lämmer und sagten, er behalte es für sich selbst. Was die Hypothese so gefährlich mache, sei die Tatsache, daß der Glaube daran eindeutig dazu führen müßte, daß niemand sich mehr die Mühe machen würde, vor den gräßlichen Metallungeheuern sehr schnell davonzurennen, und die Herde würde in kürzester Zeit degenerieren und überhaupt nicht mehr rennen können.
Als alle ihre Meinung geäußert hatten, sagte das weise alte Schaf:
›Zum Glück kann meine Theorie empirisch überprüft werden. Morgen früh, wenn das erste gräßliche Metallungeheuer kommt, werden wir nicht wegrennen. Wir bleiben am Damm liegen, und ihr werdet sehen, daß das gräßliche Metallungeheuer vorbeirasen wird, ohne uns zu bemerken.‹
Dieser Vorschlag wurde mit entsetztem Blöken quittiert; er war geradezu eine Beleidigung für jeden, der klar denken konnte. Aber die Herde war doch so
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