Tod im Tauerntunnel
am Panoramafenster mit Blick über Stuttgarts Innenstadt bis hinauf zum Fernsehturm. Sie ist in schlichtes Schwarz gekleidet. Bienzle fällt einer der bösesten schwäbischen Männersprüche ein: Manchmal wenn de a andere Frau siehscht, merkscht erscht, was da dahoim für an Kruscht hascht! Dann räuspert er sich, geht auf die Dame zu, von der er aus den Akten weiß, daß sie einst im ›Chez Nous‹ den Gästen Wasser in den Wein tat, gibt ihr die Hand und sagt: »Sie gestatten, daß ich mir Beileidskundgebungen erspare.«
Hedwig Jarosewitch, geborene Bäuerle, Sproß aus einer Tuttlinger Schreinerfamilie, ist verwirrt und nickt nur.
Bienzle weiß nicht, wo er anfangen soll. In Krimis ist das immer ganz einfach. Da haben die Edelganoven auch schöne junge Frauen, die ursprünglich aus weniger betuchten Kreisen stammen, aber die sind dann berechnend und versuchen den Polizisten zu verführen.
Bienzle wollte noch keine verführen. Dabei sieht er gar nicht so schlecht aus. Er ist 1,88 Meter groß, breitschultrig und, abgesehen von seinem ausgeprägten Bauchansatz, nicht zu dick. Sein Gesicht ist scharf geschnitten, die Nase etwas zu lang, das Kinn etwas zu weit vorgestreckt, die Stirn zu hoch im Verhältnis zur übrigen Gesichtsfläche, aber alles in allem ist es ein guter kantiger Kopf, den er da mit sich herumträgt. Seine schwarzen Haare fallen lockig über die rechte Stirn, wenn er den Kopf bewegt. Und die Augen, eines braun und eines braungrün, sehen immer nachdenklich aus - ›tief‹, sagen manche Frauen und andere ›warm‹. Daß Bienzle keinen Erfolg bei Frauen hat, liegt an seinem Phlegma. Er bemüht sich nicht. Nicht daß er kein Interesse hätte, aber da müßte schon eine einen sehr geschickten Anfang machen, damit es auf ihn nicht berechnend oder nuttig wirken würde, und die keinen Anfang machen, an die traut er sich nicht heran. Und im übrigen ist da ja auch noch Hanna, die er zwar schon lange nicht mehr liebt, aber mit der es sich leben läßt. Bienzle ist 37 und denkt jetzt manchmal, daß er bald anfangen müßte, wenn er noch mal neu anfangen wollte.
Vor dem Fenster blüht ein ausladender Jasminstrauch. Es ist knisternd heiß; so ein Wetter, das einen Kriminalkommissar, der sich nicht an strenge Dienststunden halten muß, schon einmal dazu bringt, einfach hinauszufahren in den Schönbuch oder auf die Schwäbische Alb, sich ins hohe Gras zu schmeißen und in den Himmel zu gucken, wie die Zeit vergeht.
Aber Ernst Bienzle ist in einem Trauerhaus. Er schwitzt und schweigt, bis Hedwig - wie kann eine solche Frau nur Hedwig heißen? - sagt:
»Was möchten Sie denn, Herr Inspektor?«
»Jetzt bin ich Hauptkommissar, aber das macht nichts.« Er merkt sofort, daß das ein blöder Satz ist.
Sie sagt: »Setzen Sie sich.«
Er tut's.
»Wenn Sie mir jetzt alle Fragen stellen wollen, die man immer so hört, also ob mein Mann Feinde hatte, was er vorhatte, ob er mit jemand Streit hatte - ich weiß gar nichts.«
»Natürlich...« Dann gibt er sich einen Ruck: »Ihr Mann hatte Feinde, und die kenne ich zum Teil; was er vorhatte, weiß ich ungefähr, und ob er mit jemand Streit hatte, wird sich herausstellen... Sind Sie gut mit ihm ausgekommen?«
»Er ist... Er war mein Mann!«
»Als ob das was heißen müßte«, sagt Bienzle, mehr zu sich selbst und ohne auf Hedwigs Empörung zu achten. »Hätten Sie einfach ›ja‹ gesagt oder vielleicht ›ich hab ihn liebgehabt‹)... Aber es ist egal.«
Sie fährt auf, will etwas entgegnen, überlegt sich's dann aber anders.
Bienzle sitzt da und weiß nicht recht, was er soll. Da ist ein Mordfall, und man fängt an zu recherchieren. Irgendwo. Bienzle hat sich noch nie hingesetzt und einen Plan gemacht, wie er vorgehen wollte. Strategie ist ein Wort, das ihm nichts bedeutet. Aber ein Maigret ist er auch nicht, wenn auch die örtlichen Zeitungen manchmal vom ›Nesenbach-Maigret‹ geschrieben haben - Stuttgart liegt nicht am Neckar, sondern am Nesenbach; nur Bad Cannstatt liegt am Neckar, worauf die Cannstatter größten Wert legen. Bienzle ist zäh, ausdauernd, geduldig, wenn er arbeitet. Privat ist er eher launisch und aufbrausend.
Er hat Durst. Schluckt zweimal trocken und faßt sich verstohlen an den Hals. Hedwig fragt sofort, ob er etwas zu trinken wolle, und er kann sich selbst nicht erklären, warum er »nein, danke« sagt.
Die meisten Fälle löst er, und oft ist er hinterher selbst erstaunt, wie das gekommen ist. Dem fällt alles zu, sagen die
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