Tod im Weinkontor
hinabgestiegen und hatte dort Johannes Dulcken
getroffen. Dieser saß blutend auf einem langen
Sägemesser und wollte keinen Ton sagen. Da kam ihm Barbara
Leyendecker entgegen, lächelte ihn an, und aus ihrem Mund
kroch eine Schlange. Elisabeth stand neben ihrem Bruder. Beide
hatten am ganzen Körper Augen – Augen, die ausnahmslos
schreckgeweitet waren. Andreas erwachte mit einem Schrei.
Die Glocken schlugen die fünfte Stunde. Rasch zog er sich
an und huschte mit einer Laterne in der Hand hinüber in die
dunkle Kirche, um die Frühmesse zu zelebrieren. Deutlicher
denn je wurde ihm an diesem Morgen bewusst, dass das Gotteshaus
eine riesige Baustelle war. Überall befanden sich
Gerüste und Abdeckungen, doch schon seit Wochen arbeitete
niemand mehr hier. Es gab Schwierigkeiten mit den Materialien,
mit den Knechten und Meistern. Pastor Hülshout hatte neue
Meister eingestellt, die aber zunächst die Bauzeichnungen
studieren mussten. Vielleicht würde es ja niemals
weitergehen. Vielleicht steckten sie alle in ihrem kleinen Leben
fest, das auch eine Baustelle war, an der oft niemand zu arbeiten
schien – nicht einmal Gott, von dem Andreas manchmal
befürchtete, er interessiere sich nicht sehr für die
kleinen Belange seiner Kinder.
Nach der gut besuchten Frühmesse machte sich Andreas
Bergheim auf den Weg in die Vorhölle.
Elisabeth hatte ihm auf seine Nachfrage hin erklärt,
Johannes Dulcken habe sein Handelshaus und damit auch seine
Wohnstatt verloren und friste sein Dasein nun als fliegender
Krämer am Neumarkt. Sie hatte ihn Andreas kurz beschrieben
– klein, sehr dick, wulstige Lippen, das rechte Bein
nachziehend.
Andreas nahm den Weg durch die Herzogstraße zur
Schildergasse und folgte ihr, bis er auf den Neumarkt
stieß. Die großen Linden warfen grüne Schatten
auf das Vieh, das heute hier zum Verkauf angeboten wurde. Er ging
am Rande des Platzes vorbei. Ihm reichte schon das Blöken,
Meckern, Gackern, Wiehern und Schnauben. Mit den Urhebern dieser
Laute wollte er keinesfalls nähere Bekanntschaft machen;
außerdem war der Platz an Markttagen nicht unbedingt ein
Ort angenehmer Gerüche. Es widerte Andreas an, die vielen
Schweine sich in den Gassen und auf den Straßen suhlen zu
sehen. Zwar war es verboten, dieses Vieh durch die Straßen
zu treiben, doch kaum jemand hielt sich daran. So kam ihm auf der
Höhe der Fleischmengergasse, in der sich Kleinhändler
mit geringwertigen Fleischwaren angesiedelt hatten, eine wild
gewordene, wie der Teufel quiekende Sau entgegen, der er nur
durch einen beherzten Sprung in den Kot auf der Straße
ausweichen konnte. Dem armen, verängstigten Tier setzte eine
groteske Gestalt nach. Zuerst glaubte Andreas, es sei eine
laufende Vogelscheuche, doch es schien tatsächlich ein
Mensch zu sein. Er trug Fetzen am ganzen Körper, und auch
seine Kopfbedeckung bestand aus nichts als Stoffresten, die von
einer einheitlich braunen Lehmschicht überzogen waren. Der
kleine Mann zog das rechte Bein nach, sodass er an den
Gottseibeiuns erinnerte. Doch trotz seiner Behinderung war er
unglaublich schnell. Er warf sich von einer Seite auf die andere;
sein Lauf erinnerte an ein schlingerndes Schiff. Aus dem schiefen
Mund mit den aufgequollenen Lippen troff Speichel. Vor dem Bauch
baumelte ein Kästchen, das von einem Lederriemen um den Hals
gehalten wurde. Unzählige Amulette baumelten von seiner
fadenscheinigen Kleidung; sie klingelten wie ein Wald kleiner
Glocken. Andreas trat beiseite, um dem seltsamen Genossen aus dem
Weg zu gehen. Der Mann beachtete ihn nicht, sondern rannte mit
seltsam grunzenden Lauten hinter der Sau her.
Als Andreas den beiden nachsah, kam ihm plötzlich ein
Gedanke. Er zog die Stiefel aus dem Schlamm, raffte seinen
Priesterrock und eilte dem Mann nach.
Er entsprach Elisabeths Beschreibung von Johannes Dulcken. Der
Schlamm spritzte unter Andreas’ Schuhen hoch, während
er quer über den Neumarkt hastete. Einige Viehhändler
sahen ihn verständnislos an; er benahm sich nicht gerade wie
ein Stellvertreter Gottes auf Erden. Der Verfolgte humpelte
zwischen Kühen und Pferden hindurch, die scheuten und sich
wiehernd aufbäumten; die Entfernung zu seiner Beute wurde
indes immer größer. Als er schon beinahe an der alten
Mauer war, rief Andreas ihm nach: »Johannes Dulcken! Bleibt
stehen! Ich muss mit Euch reden!«
Die Gestalt drehte sich im Laufen um, rutschte auf einem
Kothaufen aus, ruderte mit
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