Tod in Blau
gleichgültig
ist. Vielleicht braucht sie noch ein wenig Zeit zum Nachdenken.«
Er gab ihr die Hand. »Sie
hören von mir. Und nochmals vielen Dank, Frau Dr. Schott.«
Magda schaute ihm nach. Gib
dir einen Ruck, Clara, dachte sie innerlich, als könnte sie ihre
Freundin von fern beschwören, den ersten Schritt zu tun.
*
Die Fürsorge arbeitete
diesmal erfreulich schnell, vielleicht auch, weil Leo großen Druck
ausübte. Nach wenigen Tagen wurde die Wohnung der Görlichs in
Augenschein genommen, der Junge von einem Amtsarzt gründlich
untersucht, der Unterernährung und eine verlangsamte geistige
Entwicklung feststellte, ihn ansonsten aber für gesund erklärte.
Die häuslichen Verhältnisse wurden als abträglich
beschrieben und Zeugenaussagen von Nachbarn gehört, die bestätigten,
dass der Junge häufig geschlagen und vom Schulbesuch ferngehalten
wurde.
Es wurde entschieden, Paul
auf Probe zu Herrn Erich Oster in Pflege zu geben, der ihn, da es für
eine Einschulung zu spät war, selbst im Lesen und Schreiben
unterrichten und ihm dazu die Kenntnisse eines Schankhelfers vermitteln würde.
Leo war erstaunt und erfreut,
als Nelly Wegner anrief und sich erkundigte, was aus dem Jungen geworden
sei, dem ihr Mann so viel bedeutet hatte. Er erzählte ihr die guten
Neuigkeiten, worauf sie sich sehr erleichtert zeigte.
Frau Görlich blieb
seltsam teilnahmslos, als Paul mit einem kleinen Bündel unter Leos
Aufsicht die Wohnung verließ. Nur sein kleiner Bruder streckte die
Arme nach ihm aus, doch Paul wischte sich kurz über die Augen und
ging in Richtung Treppe. Der Vater war gar nicht erst erschienen.
Leo legte ihm den Arm um die
knochigen Schultern und brachte ihn zu Erich Oster in die Kameruner Straße.
Dort erwartete ihn eine Überraschung. Der Wirt, der seine Kneipe um
diese Tageszeit noch nicht geöffnet hatte, begrüßte Paul,
stellte sein Bündel in eine Ecke und sagte dann: »Stell dir
vor, hinter der Theke liegt ein Geschenk für dich.«
Ungläubig sah Paul zu
ihm hoch. Er bekam selten etwas geschenkt. Leo sah zu, wie Oster ein
flaches, in Packpapier gewickeltes Paket holte und auf einen Tisch legte.
»Hier ist ein Brief, der dazugehört. Ich lese ihn dir vor.
Lieber Paul,
ich glaube, Du kennst mich
nicht, aber ich möchte Dir heute etwas schenken. Ich habe gehört,
es ist ein wichtiger Tag für Dich, weil Du ein neues Zuhause
bekommst. Dieses Geschenk ist für Dich. Es soll Dich an deinen Freund
erinnern.
Alles Gute wünscht
Dir
Nelly Wegner
Und jetzt pack aus.«
*
Vorsichtig löste der
Junge die Kordel, mit der es verschnürt war, schlug es auseinander,
wickelte die Schichten Pappe und Seidenpapier darunter ab - und stand da
wie vom Donner gerührt.
Leo trat vor. Es war die
Tuschezeichnung von Paul. Was für ein wunderbares Geschenk, dachte
er. Er verabschiedete sich mit einer Geste von Oster und verschwand unauffällig,
während Paul noch in dem menschenleeren Schankraum stand und in
Gedanken versunken sein Porträt betrachtete.
*
An diesem Abend unterhielten
Leo und Ilse sich über die Weihnachtsgeschenke für die Kinder.
Marie wünschte sich Möbel für ihr Puppenhaus, Georg Ritter
für die hölzerne Burg, die Leo vor zwei Jahren von einem
Bekannten hatte anfertigen lassen. Dazu noch ein Buch für jeden und
warme Socken.
Seine Schwester war sehr
ruhig, und Leo fragte sich, ob sie mit Bruno Schneider innerlich
abgeschlossen hatte. Bislang war der Mann nicht wieder aufgetaucht, hatte
sich womöglich nach Süddeutschland oder sogar ins Ausland
abgesetzt. Was mochte in Ilse vorgehen? Doch Leo zog es vor, sie jetzt nicht darauf anzusprechen, da ihm
dieser zerbrechliche Friede teuer war.
Er berichtete Ilse von Paul Görlichs
Schicksal und wie erfolgreich der Fall Wegner ausgegangen war. Herbert von
Malchow würde bis auf weiteres in der Inspektion D bleiben, obwohl er
nach wie vor darauf drängte, ins Morddezernat zurückzukehren.
Leos Zusammenstoß mit Dr. Clauditz hatte keine unerfreulichen Folgen
gehabt, da man ihn und seine Kommission für die Aufklärung des
Falles Wegner belobigt hatte. Noch mal davongekommen, dachte er.
»Dann haben wir doch
eine friedliche Adventszeit vor uns«, sagte sie mit verhaltenem Lächeln,
ohne von ihrem Strickzeug hochzublicken. Sie hatte Schneider mit keinem
Wort mehr erwähnt, wirkte aber noch still und bedrückt.
»Ja, das
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