Tod in Blau
Ihnen aufweist und auf der Sie in unzüchtigem
Kontakt mit einem jungen Mann dargestellt sind. Dieser Zeuge sagt
weiterhin aus, dass Sie ihn verfolgt, bedroht und entführt haben, da
Wegner ihm seine Zeichnung anvertraut hatte, bevor man ihn ermordete. Wir
wissen außerdem, dass die Tänzerin Thea Pabst Ihnen von
ebendieser Zeichnung erzählt hat.«
Vom Hofe war instinktiv einen
Schritt vorgetreten, als wollte er Leos Vorwürfe abwehren. »Aber
diese Spekulationen beruhen doch einzig auf der Annahme, dass ich es bin,
der auf dieser obskuren Zeichnung dargestellt ist.«
Leo zog seelenruhig seine
letzte Trumpfkarte. »Nein, Herr vom Hofe, Spekulation würde ich
das nicht nennen.« Er holte ein gefaltetes Blatt aus der
Manteltasche und begann vorzulesen:
»27. August 1916«
Ein Tag wie kein anderer.
Heute habe ich etwas erlebt, das mich mehr erschüttert hat als die
grausamsten Schlachten des Krieges, mehr als das Gemetzel, das seit
nunmehr zwei Monaten hier an der Somme sinnlos hin und her wogt. Man
schickte mich am frühen Abend zum Requirieren in ein Dorf ein Stück
weit hinter unseren Linien. Ich schlenderte die Straße entlang. Als
ich losging, war es noch recht hell, doch nun hatte die Sonne fast den
Horizont erreicht. Mir fiel ein entlegenes Gehöft auf, dessen Wiesen
besonders saftig und dessen Obstbäume besonders üppig wirkten.
Wie auf einem Gemälde, dachte ich noch. Also ging ich hin, um dort
Obst für unsere Kompanie zu besorgen.
Es war unheimlich still.
Niemand schien zu Hause zu sein. Ich näherte mich dem Anwesen und hörte,
als ich nur noch wenige Schritte von der Tür entfernt war, ein leises
Wimmern. Ein Kätzchen, dachte ich und trat ein, um nach dem Tier zu
sehen. Darauf steigerte sich das Wimmern zu einem Geheul, ich konnte
undeutliche französische Laute vernehmen, sie klangen wie non,
laissez-moi, non, non. Ich ging durch einen kühlen, dunklen Flur, der
Stimme nach. Eine angelehnte Tür. Vorsichtig schaute ich hinein.
Durchs Fenster fiel ein blauer Schein und tauchte den Raum in ein
unwirkliches Licht.
Ich weiß noch, es
duftete herzhaft nach geräuchertem Fleisch - eigenartig, welch
unwichtige Dinge man wahrnimmt, obwohl der ganze Verstand auf etwas
anderes gerichtet ist.
Ein Offizier, einer der
unseren, drückte einen etwa vierzehnjährigen Jungen über
einen Tisch, die Arme ausgebreitet, den Kopf aufs Holz gepresst. Er war
zart, mit leicht gebräunter Haut und dunklen Locken. Er trug ein
himmelblaues Hemd.
Dieser Junge war es, der
die Laute ausstieß. Seine Hose war ihm bis auf die Holzpantinen
gerutscht, und der Offizier missbrauchte ihn roh. Mir wurde übel von
dem Anblick, doch ich getraute mich nicht, einzugreifen. Ich eilte hinaus,
als wäre der Teufel hinter mir her.
Ohne auf die Reaktion der Männer
zu achten, drehte Leo das Blatt um. »Unter dem Datum 3. September
1916 fanden wir noch den folgenden Zusatz:
Nun weiß ich auch
den Namen: Major Richard vom Hofe, 1. Garderegiment zu Fuß. So sieht
also die Elite unseres Vaterlandes aus. Dieses Bild hat sich mir
eingebrannt, ich werde es nie vergessen.
Und ich frage mich nun
seit jenem Tag: Warum habe ich dem Jungen nicht geholfen? Warum habe ich
zugesehen, wie solch schreckliches Unrecht geschah? War es die Angst vor
dem vorgesetzten Offizier, dem Vertreter der Macht? Wohl kaum. Eher mag es
sein, dass der Krieg als solcher die Menschen abstumpfen und verrohen lässt,
so dass meine erste Regung Flucht statt Hilfe war. Ich wünschte, ich
könnte es ungeschehen machen.
Die Frage nach dem Alibi können
Sie im Präsidium beantworten.« Leo wandte sich noch einmal zu
von Mühl, in dessen Gesicht Wut und Zweifel miteinander kämpften.
»Auf Wiedersehen«, sagte er knapp.
»Darf ich mich noch von
Major vom Hofe verabschieden?« Leo nickte und zog die Handschellen
aus der Tasche. »Aber beeilen Sie sich.«
Von Mühls Bewegung war
fließend. Ein Griff in die Schublade, etwas Graues schimmerte in der
Luft, vom Hofe griff danach. Trat einen Schritt zurück, hob den
Revolver an die Schläfe und drückte ab.
25
Dezember 1922
»Den Selbstmord können
wir wohl als Geständnis werten«, sagte Leo und schob seinen
Stuhl vom Schreibtisch zurück. »Von Mühl kommt natürlich
davon, dafür werden seine Beziehungen schon sorgen. Na ja, immerhin
ist damit eine Last von dem Jungen genommen, ein
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