Tod in Blau
haben wir wohl«,
antwortete Leo, stand auf und ging in die Küche. Er öffnete das
Fenster einen Spalt breit, zündete sich eine Zigarette an und blies
den Rauch in die eisige Abendluft. Von unten hörte er leise Schritte,
etwas zog seinen Blick unwillkürlich hinunter. Vor dem Haus stand
eine Frau. Von oben sah er im Schein der Straßenlaterne nur einen
dunklen Mantel, eine samtene Baskenmütze und lockige Haare, die
darunter hervorlugten. Er räusperte sich, leise, wie er dachte, doch
in der klaren Luft klang es lauter als beabsichtigt.
Sie schaute hoch. »Ich
muss mit dir reden.«
Leo wusste später nicht
mehr, wie er in so kurzer Zeit die Zigarette ausdrücken, Ilse einen
Gruß zurufen, Mantel, Hut und Schal anziehen und die Treppe
hinunterstürzen konnte, es musste nahezu Weltrekord gewesen sein.
»Ich hab dir so viel zu
sagen. Sollen wir ein Stück laufen? Dann ist es nicht so kalt«,
schlug Clara zögernd vor, während der Atem dicht um ihr Gesicht
wölkte.
»Gleich.« Leo zog
sie wie ein Schuljunge an der Hand in die Durchfahrt, lehnte sie gegen die
Mauer, umschloss ihr Gesicht mit den Händen und küsste sie
behutsam auf die Lippen.
Das Herbstlaub knirschte
unter ihren Füßen, an der Pumpe hing ein dicker Eiszapfen. Die
Straßen waren still, denn bei diesem Wetter wagte sich nur vor die Tür,
wer dringend zu tun hatte. Und jene, die die Kälte nicht spürten,
weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders waren.
Clara erzählte ihm von
dem eleganten jungen Offizier, den sie 1912 geheiratet hatte, weil sie von
ihm beeindruckt und außerdem begierig darauf war, das Elternhaus zu
verlassen und in die Großstadt ziehen zu können. Von der ersten
Ernüchterung, dem Gefühl, nur in schöne Kleider gehüllt
und herumgezeigt zu werden wie eine Puppe. Von ihrem Mann, der jeden Abend
ins Offizierskasino ging und sich betrunken in ihr Bett drängte, bis
sie ein eigenes Schlafzimmer bezog und das Schloss auswechselte. Der sich
gedemütigt fühlte, weil sie kein Kind von ihm wollte. Der auf
Heimaturlaub kam und doch nur danach fieberte, an die Front zurückzukehren.
Leo stellte keine Fragen und
ließ sie einfach reden, weil er spürte, dass sie sich die
Geschichte vor allem selbst erzählen musste.
Wie sie kurz nach dem Krieg
die Scheidung beantragt hatte und schuldig geschieden wurde, weil ihr tief
gekränkter Mann einen Kameraden zu der Aussage überredet hatte,
sie habe ihm Avancen gemacht. Leo hörte auch dann noch gelassen zu,
als Clara sagte: »Ich glaube, ich hätte tatsächlich mit
ihm geschlafen, wenn er mich gewollt hätte.« Dass sie keinen
Unterhalt bekam und mit dem, was sie von ihren Eltern geerbt hatte und mit
der Leihbücherei verdiente, auskommen musste. Und stolz auf ihre
Unabhängigkeit war.
Plötzlich standen sie
wieder vor dem Haus. Clara schaute ihn von der Seite an und hob die Hand,
als wollte sie sich verabschieden, doch Leo ergriff sanft ihren Arm und
zog sie zur Haustür.
Sie folgte ihm zögernd
die Treppe hinauf, drehte sich noch einmal halb um, als
wollte sie kehrtmachen, doch Leo ging unbeirrt weiter.
Oben schloss er die Wohnungstür
auf, ohne ihre Hand loszulassen. Obwohl sie sparsam heizten, wirkte die
Wohnung warm und einladend. Ilse saß noch im Wohnzimmer, strickte an
einem bunten Schal für Marie und fragte, ohne aufzublicken: »Wo
bist du denn nur hingelaufen bei der Kälte?«
Leo schob Clara sanft ins
Wohnzimmer und sagte: »Ilse, ich möchte dir jemanden
vorstellen.«
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