Tod in Breslau
er nun schon seit 1924 in
Deutschland. Er hat die ganze Zeit in Berlin verbracht,
wo er das bescheidene und gleichförmige Leben eines Be-
amten im diplomatischen Dienst geführt hat. Die einzige
Abwechslung waren für ihn die Ausflüge nach Breslau.
Ja, ja, Herr Mock, so war es: Erkin hat sich sehr für unse-re Stadt interessiert. Im Laufe von sechs Jahren war er
zwanzigmal in Breslau. Wir hatten gleich zu Beginn ein
Auge auf ihn. Es existiert eine dicke Akte über ihn, aber
deren Inhalt wird Sie enttäuschen: Er kam zu seinem
Vergnügen in unsere Stadt, namentlich zu künstlerischen
Veranstaltungen. Er war ein eifriger Konzertbesucher,
verbrachte viel Zeit in Museen und Bibliotheken. Auch
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einem gelegentlichen Bordellbesuch gegenüber war er
nicht abgeneigt. Dort war er bald für seine geradezu un-
erschütterliche Manneskraft berühmt, ja geradezu be-
rüchtigt. Eine der Damen hat behauptet, dass Erkin im
Laufe einer halben Stunde zweimal den Beischlaf vollzo-
gen hat, ohne – pardon! – ihren Körper zu verlassen. Er
hat sich übrigens mit einem Bibliothekar der Universi-
tätsbibliothek angefreundet, dessen Namen ich leider
vergessen habe. Im Dezember 1932 hat er sich bei der
Staatspolizeileitstelle in Oppeln um ein Praktikum be-
worben. Bitte stellen Sie sich das vor: Trotz seiner sicheren Stellung in Berlin beschließt er aus heiterem Himmel,
in den hintersten Krähwinkel zu übersiedeln und bei den
schlesischen Provinzlern zu lernen. Das sieht so aus, als
hätte er vorgezogen, der Zehnte in Oppeln zu sein, anstatt der Zweite in Berlin.«
Von Hardenburg bestellte bei der vorbeieilenden Kell-
nerin seine Rippchen, klopfte mit einer Zigarette auf sein goldenes Etui mit dem eingravierten Wappen und sah
Mock erwartungsvoll an.
»Aber vielleicht können gerade Sie mir die merkwür-
dige Vorliebe Erkins für diesen wunderschönen schlesi-
schen Landstrich, unsere Schweiz des Nordens, erklä-
ren?«
Mock gab ihm schweigend Feuer. Auf der Bühne be-
gann man wieder mit der Aufführung bacchischer Ritua-
le, und von Hardenburg setzte sein Monokel wieder ein
und verfolgte das Schauspiel.
»Sehen Sie nur, diese Rothaarige, dort rechts! Das
nenne ich eine echte Künstlerin!« Mock sah nicht hin.
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Gedankenverloren starrte er in die dunklen Lichtreflexe
in seinem Rotweinglas. Auf seiner Stirn waren zwei steile
Denkfalten sichtbar geworden. Von Hardenburg löste
seinen Blick von der Bühne und hob sein Glas.
»Wer weiß, vielleicht werden Ihre Hinweise sowohl
mir als auch meinem Vorgesetzten in Berlin dabei behilf-
lich sein, eine für Sie günstige Entscheidung zu treffen?
Ich habe gehört, dass Sie eine ganz ansehnliche Samm-
lung von Typencharakteristiken verfasst haben …«
Eine recht üppige Dame war an den Tisch getreten und
lächelte von Hardenburg an. Auch Mock lächelte ihm zu
und hob sein Glas. Fast lautlos stießen sie an.
»Also dann, treffen wir uns morgen in meinem Büro?
Für heute bitte ich Sie, mich zu entschuldigen. Ich habe
eine Verabredung mit dieser Schönheit … Bacchus ruft
mich zu seinem Mysterienspiel …«
An diesem Abend kam es zu keiner Schachpartie mit
Mocks Gespielinnen – aus dem einfachen Grund, weil
das Schachspiel für die Mädchen nur eine angenehme
Nebenbeschäftigung war. Heute erfüllten sie mit anderen
Kunden, mit denen bereits zu einem früheren Zeitpunkt
ein Stelldichein vereinbart war, ihre eigentlichen Aufga-
ben in einem der verschwiegenen Séparées. So musste
Mock also auf das königliche Spiel verzichten, was jedoch
keineswegs bedeutete, dass seine anderen Bedürfnisse an
diesem Abend zu kurz kamen. Um Mitternacht verab-
schiedete er sich von einer drallen Brünetten und begab
sich zu dem Zimmer, in dem er sich gewöhnlich freitag-
abends die Zeit vertrieb. Sein mehrmaliges Klopfen blieb
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ohne Antwort. Also öffnete er die Tür einen Spalt und
riskierte einen Blick: Anwaldt lag vollkommen entkleidet
auf einem Berg mauretanischer Kissen, während die
Gymnasiastinnen sich gerade wieder langsam anzogen.
Mit einer Geste trieb sie Mock zur Eile an. Auch Anwaldt
schlüpfte, peinlich berührt, rasch in Hemd und Hose. So-
bald die kichernden Mädchen verschwunden waren, stell-
te Mock eine Flasche Rheinwein und zwei Gläser auf den
Tisch. Anwaldt, der noch immer die Auswirkungen sei-
nes Katers spürte, kippte hastig zwei Gläser hintereinan-
der hinunter.
»Wie geht es dir? Hat die älteste
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