Tod in Breslau
hysterisch. Das
Klopfen an der Tür geriet zu einem Hämmern.
Mock stand auf und holte aus. Seine Hand landete klat-
schend auf dem Gesicht des schreienden Assistenten. Stil-
le. Das Klopfen hatte aufgehört, nebenan raschelten nur
leise die Kleidungsstücke, die eines der Mädchen wohl
vom Boden zusammenklaubte. Anwaldt war erstarrt, und
Mock hatte plötzlich seinen Gedanken wiedergefunden.
Er hörte noch seine Worte: »Du wirst jetzt gut auf dich
aufpassen, und auch solange wir diesen Erkin nicht ge-
schnappt haben, wird dir nichts geschehen. Und sobald
wir ihn schnappen, wird sowieso nichts aus seiner Missi-
on … wird sowieso nichts aus seiner Mission …«
Er stand nahe bei Anwaldt und blickte ihm scharf in
die Augen. »Hör zu, mein Sohn, Doktor Hartner meint,
dass die Rache nur unter genau denselben Umständen
vollzogen werden darf, wie sie bei dem ursprünglichen
Verbrechen geherrscht haben. Und jetzt stell dir vor: Die
Yeziden haben jahrhundertelang darauf gewartet, dass in
der Familie von der Malten ein Sohn und eine Tochter
geboren werden … Doch einmal hat es bereits ein solches
Geschwisterpaar gegeben: Olivier von der Maltens Vater
Ruppert und dessen Schwester. Warum haben die Yezi-
den die beiden damals nicht umgebracht? Sie zuerst ge-
321
schändet und ihnen Skorpione in die Eingeweide gesetzt?
Hartner hat zwar den Verdacht geäußert, dass es in der
Abgeschiedenheit eines Klosters unmöglich gewesen wä-
re, den Racheakt auszuführen.« Mock schloss die Augen,
ihm graute vor sich selbst. »Aber das glaube ich nicht.
Weißt du, warum? Weil ihr Vater bereits nicht mehr am
Leben war. Die Zwillinge wurden erst nach dem Tod ih-
res Vaters geboren, da er in der Schlacht von Solferino
gefallen war. Das weiß ich genau. Denn Olivier von der
Malten, mein geschätzter Studienkollege, hat mir alles
über seinen heldenhaften Großvater erzählt. Also waren
die Umstände nicht die gleichen … Wenn nun auch Oli-
vier von der Malten plötzlich sterben würde, dann …«
Anwaldt war zum Tisch getreten, hatte die Flasche er-
griffen und sie angesetzt. Mock sah zu, wie ihm der Wein
über das Kinn floss und sein Hemd verfärbte. Anwaldt
trank die Flasche leer, vergrub sein Gesicht in den Hän-
den und presste hervor: »Also gut. Ich werde es tun. Ich
werde den Baron umbringen.«
Mock fühlte ein Würgen in der Kehle. Der Abscheu
vor sich selbst schien ihm die Luft zu nehmen.
»Das kannst du nicht tun. Er ist doch dein Vater.«
Anwaldts Augen blitzten zwischen seinen Fingern her-
vor.
»Nein. Mein Vater, das sind Sie.«
322
Breslau, Donnerstag, 19. Juli.
Vier Uhr morgens
Der schwarze Adler hielt vor dem Palais der Familie von
der Malten. Ein Mann stieg aus, näherte sich schwankend
dem Tor, und die nächtliche Stille wurde durch ein
schrilles Läuten zerrissen. Der Adler fuhr mit quiet-
schenden Reiten an, während der Mann am Steuer einen
Blick in den Rückspiegel warf und sich für einen Moment
in den Anblick, der sich ihm bot, vertiefte.
»Du bist ein Dreckskerl«, sagte er zu dem müden Ge-
sicht, das ihm entgegenblickte. »Du hast diesen jungen
Menschen in ein Verbrechen getrieben. Du hast ihn zu
deinem Instrument gemacht. Ein Instrument, mit dem
du dich des letzten Zeugen deiner freimaurerischen Ver-
gangenheit entledigen möchtest.«
Olivier von der Malten stand auf der Schwelle zu seiner
weiträumigen Empfangshalle. Es sah aus, als hätte er sich
noch gar nicht zur Ruhe begeben. Er wickelte sich fester
in seinen bordeauxroten Hausmantel und blickte streng
auf Anwaldt, der auf wackligen Beinen vor ihm stand.
»Junger Mann, was glauben Sie eigentlich? Dass dies
hier eine Ausnüchterungszelle oder ein Nachtasyl für Al-
koholiker ist?«
Anwaldt lächelte, und um sein Lallen ein wenig zu
verbergen, dämpfte er die Stimme:
»Ich habe wichtige Informationen für den Herrn Ba-
ron …«
323
Der Gastgeber trat zurück in die Halle und bedeutete
Anwaldt, er möge eintreten. Den verschlafenen Diener
schickte er fort. An allen Wänden der geräumigen, holz-
getäfelten Eingangshalle hingen Porträts der von der
Maltens. Und was Anwaldt in den Gesichtern erkennen
konnte, waren nicht so sehr Strenge und Ernst, sondern
eher Hochmut und Durchtriebenheit. Vergeblich sah er
sich nach einer Sitzgelegenheit um. Der Baron tat, als hät-te er es nicht bemerkt.
»Was möchten Sie mir Neues zu der Sache erzählen?
Ich habe heute mit Mock zu
Weitere Kostenlose Bücher