Tod in Breslau
und
die Schauspieler verließen erschöpft die Bühne. Der Saal
hatte sich geleert, dafür platzten nun die Zimmer aus al-
len Nähten.
An diesem Abend saßen Rainer von Hardenburg,
Mock und Anwaldt auf der Galerie und betrachteten von
dort das einleitende Schauspiel einer ausschweifenden
Orgie. Bereits zu Beginn der Vorstellung zeigte sich An-
waldt merklich aufgekratzt. Mock war das nicht entgan-
gen – er stand auf und ging in Madames Arbeitszimmer.
Sie begrüßten einander mit dem gewohnten Über-
schwang, bevor Mock seine Bitte äußerte. Madame war
sofort einverstanden und griff unverzüglich zum Tele-
fonhörer. Als Mock zurückgekehrt war, lehnte sich An-
waldt zu ihm hinüber und fragte flüsternd:
»Wo bekommt man hier die Zimmerschlüssel?«
»Warte noch einen Moment. Wo willst du denn so
schnell hin?« Mock lachte anzüglich.
»Sehen Sie denn nicht? Man muss sich ranhalten, die
Hübschesten sind schon bald alle vergeben!«
»Hier sind alle hübsch. Da, schau dir zum Beispiel die-
se beiden an.«
Zwei Mädchen in Schuluniform waren an ihren Tisch
getreten. Die beiden Polizisten wussten, wer sie waren,
doch die Mädchen taten so, als wäre es ihre erste Begeg-
nung. Beide sahen Anwaldt mit unverhohlenem Interesse
an, und schließlich legte diejenige, die Erna so sehr ähnel-te, ihre Hand zart auf die Anwaldts – dabei lächelte sie
ihn aufmunternd an. Er stand auf, legte seinen Arm um
ihre schlanke Taille, wandte sich zu Mock, nickte kurz
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und verabschiedete sich: »Mit Verlaub …« Alle drei be-
gaben sich auf das Zimmer, in dessen Mitte ein Spieltisch
mit Schachbrett stand, das in kunstvoller Intarsienarbeit
gefertigt war.
Im Salon lehnte sich Madame derweil entspannt zu-
rück. Sie nahm es mit der Förmlichkeit gegenüber ihren
Kunden nicht mehr so genau.
Von Hardenburg lächelte Mock zu:
»Da haben Sie einen guten Riecher gehabt, um diesen
Menschen glücklich zu machen. Wer ist das überhaupt?«
»Ein naher Verwandter, aus Berlin. Auch ein Polizist.«
»Na, dann können wir ja einmal einen waschechten
Berliner fragen, was er für einen Eindruck vom exklusiv-
sten Breslauer Club hat. Auch wenn der hier ein wenig
außerhalb Breslaus liegt.«
»Ach, was wissen schon die Berliner! Die werden sich
immer über uns lustig machen. Aber mein Verwandter
ist keiner von denen, der hat Manieren. Denn wissen Sie,
irgendwie müssen die aus der Hauptstadt ihre Komplexe
doch loswerden. Besonders diejenigen, die eigentlich aus
Breslau stammen. Kennen Sie die Redensart ›Ein echter
Berliner muss aus Breslau stammen‹?«
»Na, nehmen Sie zum Beispiel diesen Kraus.« Von
Hardenburg rieb sein Monokel. »Er hat ganze zwei Jahre
in Berlin gelebt, und dann hat ihn von Woyrsch nach
Breslau geholt, nachdem Heines, Brückner und Piontek
abserviert waren – als Gestapo-Chef. Kraus tat so, als sei der Wechsel ein Sprung auf seiner Karriereleiter, und um
zu verbergen, dass er eigentlich enttäuscht war, hat er
seine Nase ziemlich hoch getragen – unser boshafter und
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einfältiger Eiferer. Dieser Mensch, der nicht mehr als
zwei Jahre in Berlin gelebt hat, kommt nun daher und
macht sich auf Schritt und Tritt über den schlesischen
Provinzialismus lustig. Ich habe ein wenig recherchiert:
Wissen Sie, woher Kraus wirklich stammt? Aus Franken-
stein. Niederschlesien!«
Die beiden lachten laut und stießen darauf an. Die
Schauspielerinnen unten auf der Bühne verbeugten sich
und boten dabei den Zuschauern noch einmal alle Reize
in ihrer ganzen Pracht. Mock fingerte seine türkischen
Zigarren hervor und bot sie von Hardenburg an. Da er
sah, dass der Chef der Abwehr es keineswegs eilig hatte,
zur Sache zu kommen, wartete er geduldig, bis von Har-
denburg selbst den Moment für geeignet hielt, seine Neu-
igkeiten über Erkin mit ihm zu teilen. Mock hoffte insge-
heim, dass er aus seinem Gegenüber mehr herausbekäme,
als aus Hartners Expertise und Brief hervorging. Vor al-
lem hätte er gerne Erkins Adresse erfahren.
»Menschen vom Schlage Kraus’ können unseren Adel,
die Familientraditionen und hiesige Lebensart nicht er-
tragen.« Von Hardenburg blieb noch ein wenig beim
Thema Schlesien. »All diese von Schaffgotsch, von Car-
mers und von Donnersmarcks sind ihnen ein Dorn im
Auge. Und deshalb tut es ihrem Selbstwertgefühl gut,
wenn sie sich über die alten Sitten und Gebräuche der Ari-
stokraten und über die Kohlebarone lustig machen
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