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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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und beste Methode
    gegen Depressionen gewirkt?«
    »Leider hält die Wirkung dieses Mittels nie sehr lange
    an.«
    »Weißt du, dass die Impfung gegen eine Krankheit
    nichts anderes ist als der Kontakt mit dem Virus, das ge-
    rade diese Krankheit hervorruft?« Diese Metapher gefiel
    Mock sichtlich. »Daher infiziere ich dich jetzt endgültig: Von Hardenburg hat unseren Verdacht bestätigt – Erkin
    ist der Yezide, der in verbrecherischer Mission nach
    Breslau gekommen ist. Und zur Hälfte hat er sie auch
    par excellence erfüllt.«
    Anwaldt sprang so hastig auf, dass er den Tisch beina-
    he umgestoßen hätte. Die Weingläser tanzten auf ihren
    zierlichen Füßen.
    »Mock, Sie vollführen hier ihre rhetorischen Spielchen,
    aber was sich da über mir zusammenbraut, das ist wohl
    kein Scherz! Irgendwo in der Nähe, vielleicht sogar in
    diesem Bordell, lauert auf mich ein Fanatiker, der meinen
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    Bauch mit Skorpionen spicken will! Da, sehen Sie, ist die-
    se Tapete nicht wie geschaffen dafür, dass jemand mit
    meinem Blut ein paar persische Verse darauf schmiert?
    Sie haben mir das Bordell als Therapie anempfohlen …
    aber was für eine Therapie kann einem Menschen helfen,
    für den die Entdeckung, dass er einen Vater hat – bis da-
    hin sein größter Traum –, im selben Moment zum größ-
    ten Verhängnis geworden ist?«
    Was Anwaldt sonst noch sagen wollte, blieb unklar –
    er brachte die Worte durcheinander, und seine Rede-
    schwall kam ins Stocken. Er begann zu weinen wie ein
    Kind. Sein verwüstetes und zerstochenes Gesicht verzerr-
    te sich, er schluchzte. Mock öffnete die Tür und sah auf
    den Korridor hinaus. Man konnte einen betrunkenen
    Kunden unten randalieren hören. Er schloss die Tür und
    ging zum Fenster, um es weit zu öffnen. Aus dem Garten
    drang eine Duftwolke der blühenden Linden ins Zimmer.
    Aus einem der angrenzenden Räume war das Stöhnen ei-
    ner der Bacchantinnen zu vernehmen.
    Mock war in Verlegenheit, er seufzte, öffnete den
    Mund und wollte schon sagen: »Nun hör doch schon
    auf zu flennen, du bist doch ein Mann!«, doch er biss
    sich im letzten Moment auf die Zunge. Er meinte nur:
    »Komm schon, übertreib nicht, Anwaldt. Du wirst jetzt
    gut auf dich aufpassen, auch solange wir diesen Erkin
    nicht geschnappt haben, wird dir nichts geschehen. Und
    sobald wir ihn schnappen, wird sowieso nichts aus sei-
    ner Mission.«
    Anwaldt hatte seine Tränen schon getrocknet. Er wich
    Mocks Blick aus, knackte nervös mit seinen Fingergelen-
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    ken, strich sich ein ums andere Mal über seine Kerbe am
    Kinn, seine Augen huschten von einer Seite zur anderen.
    »Ist schon gut, Anwaldt!« Mock empfand tiefes Ver-
    ständnis für den Zustand seines Assistenten. »Wer weiß,
    vielleicht sind alle unsere Neurosen nur das Resultat da-
    von, dass wir unsere Tränen zurückhalten? Auch Homers
    Helden haben geweint. Und das hemmungslos!«
    »Und Sie … Weinen Sie auch manchmal?« Anwaldt
    sah Mock hoffnungsvoll an.
    »Nein«, log dieser.
    Eine Welle des Zorns überwältigte Anwaldt. Er stand
    auf und rief hell empört: »Ja, selbstverständlich: Warum
    sollten Sie auch weinen? Sie hat man nicht ins Waisen-
    haus gesteckt, niemand hat ihnen nahe gelegt, ihre eige-
    nen Exkremente zu fressen, wenn Sie den Spinat nicht
    hinuntergekriegt haben! Ihre Mutter war kein Flittchen
    und ihr Vater kein verfluchter preußischer Aristokrat,
    der von seinem Kind nichts wissen wollte. Sie haben kei-
    ne Ahnung, wie es ist, wenn man morgens aufwacht und
    sich freut, dass man den gestrigen Tag überlebt hat, weil
    niemand Ihnen den Wanst aufgerissen hat, um Ihnen ei-
    ne Hand voll giftiger, schwarzer Bestien in die Gedärme
    zu setzen. Menschenskind, diese Leute haben sieben
    Jahrhunderte gewartet, bis endlich ein Geschwisterpaar
    auf die Welt kommt … und die werden diese Gelegenheit
    nicht einfach verstreichen lassen! Dieser besessene Pro-
    phet hat seine Erscheinung gehabt … die Zeit rückt im-
    mer näher …«
    Mock hörte nicht zu. Wie einer, der bei einem förmli-
    chen Empfang das Schweigen am Tisch nicht erträgt und
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    sich bemüht, seinem Gedächtnis einen Witz, einen
    Schwank oder Kalauer zu entlocken, durchforschte er fie-
    berhaft sein Gehirn … Ein Schrei entfuhr Anwaldt. Je-
    mand hatte an die Tür geklopft. Er zitterte. Es klopfte lauter. Hinter der Wand ließ sich ein nicht ganz aufrichtiger Lustschrei vernehmen und hallte durch das geöffnete
    Fenster im Garten wider. Anwaldt wurde

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