Tod in Breslau
der Kriminalabteilung ein, und ein persönli-
cher Feind von Mock, ein gewisser Rat Eile, wurde Vor-
sitzender des neu gegründeten Judenreferats. Und bis
zum heutigen Tag – im Mai 1933 – hatte es Mock noch
immer nicht geschafft, auf diese Ereignisse mit Entschie-
denheit zu reagieren. Er war in einer heiklen Lage: So-
wohl gegenüber von der Malten als auch gegenüber der
Freimaurerloge musste er sich loyal zeigen, denn beide
hatten wesentlichen Anteil an seiner steilen Karriere ge-
habt. Doch gleichzeitig durfte er es sich auch mit den Na-
zis nicht verderben. Am meisten störte ihn, dass er kei-
nen Einfluss auf die Situation hatte und dass seine Zu-
kunft davon abhing, ob er herausfand, wer der Mörder
von Marietta von der Malten war. Sollte es sich dabei um
ein Mitglied einer Sekte handeln – und das war sehr
wahrscheinlich –, dann hätte die Nazipropaganda einen
bequemen Vorwand, die Breslauer Freimauer sowie ih-
nen nahe stehende Personen wie Mühlhaus und Mock zu
beseitigen. Einen des Mordes überführten Sektenangehö-
rigen würde ein Revolverblatt wie der »Stürmer« mit
großer Freude in einen Freimaurer verwandeln und das
schreckliche Verbrechen als einen Ritualmord hinstellen.
Sollte es sich herausstellen, dass der Mörder psychisch
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krank und abartig veranlagt war, würden Heines und
Konsorten Mock sicher dazu zwingen, ihm ein »deutsch-
feindliches« Vorleben, wie etwa jüdische Abstammung
oder Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge, zu konsta-
tieren. Im einen wie im anderen Fall würde Mock gegen-
über seinen Logenbrüdern, deren Protektion er genoss,
ins Zwielicht geraten. Es sähe danach aus, als wäre er ein Instrument jener Propagandisten. Kein Wunder, dass
von der Malten wünschte, der Mörder solle ihm persön-
lich ausgeliefert werden. Er wollte die Bluttat eigenhändig rächen und damit gleichzeitig die Intrigen gegen die Logen im Keim ersticken. Das hätte für Mock die Folge, in
jedem Fall bei der Fischereipolizei in Lüben zu landen –
ob er den Mörder nun den Händen des Barons überließe
oder nicht. Denn wenn er es täte, würde sich die braune
Presse, von Forstner angestachelt, über die Selbstjustiz
der Freimaurer auslassen. Im anderen Fall konnte er je-
doch sicher sein, von Mühlhaus und seinen Logenbrü-
dern geächtet zu werden. Gewiss, Mock könnte sich von
der Loge lossagen und zu den Nazis überlaufen, aber da-
gegen protestierten dann doch die Reste des »guten Ge-
schmacks«, die der vierundzwanzig Jahre lange Dienst bei
der Polizei ihm noch gelassen hatte – ebenso wie das Be-
wusstsein, dass es mit seiner Karriere dann endgültig
vorbei sein würde. Denn die Loge hätte sich auf die ein-
fachste Art an ihm rächen können, indem sie jedem, der
es wissen wollte, Informationen über seine freimaureri-
sche Vergangenheit zukommen ließ.
Nikotin vertrieb immer Mocks düstere Gedanken. So
war es auch jetzt. Plötzlich hatte er einen genialen Einfall: 41
Ein Selbstmord des Verbrechers kurz nach seiner Fest-
nahme und ein rasches Begräbnis. (Dann könnten mir die Nazis keine deutschfeindlichen Details in der Biografie des Verbrechers abnötigen. Ich sage einfach, dass er schon tot ist, dass ich keine Zeit habe, ihrem Bürokratismus nachzukommen und mir irgendwelche Verhörprotokolle aus den
Fingern zu saugen. Vor der Loge könnte ich mich auch
rechtfertigen, denn selbst wenn die Nazipresse dem Mörder einen entsprechenden Lebenslauf unterschiebt, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich damit nichts zu tun habe.) Das könnte ihn retten.
Doch einen Moment später verfiel Mock wieder in fin-
steres Brüten. Denn er hatte eines nicht bedacht: Was,
wenn er den Mörder einfach nicht finden würde?
Der Kellner stellte einen Literkrug aus Steingut mit
Kipke-Bier auf den Tisch. Er wollte gerade fragen, ob
Mock noch einen Wunsch hätte, als dieser ihn mit stie-
rem Blick ansah und hervorstieß: »Wenn ich diese Bestie
von einem Mörder nicht finde, dann werde ich selbst eine
erfinden!« Er beachtete nicht die verdutzte Miene des
Kellners und fuhr in seinen Überlegungen fort. Vor sei-
nen Augen erschienen die Gesichter möglicher Mörder.
Fieberhaft notierte er einige Namen auf der Serviette.
Er wurde von dem Mann unterbrochen, mit dem er
hier verabredet war: Walter Piontek, SA-Hauptsturm-
führer von der Gestapo. Piontek sah aus wie ein gutmüti-
ger Gastwirt. Mit seiner riesigen fleischigen
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