Tod in Breslau
größte
Erfolg, den Sie in diesem Moment beibringen könnten,
die Festnahme des Mörders der Baronesse von der Mal-
ten wäre.«
»Herr Hauptsturmführer, Sie gehen davon aus, dass es
mein größter Wunsch wäre, der Nachfolger von Mühl-
haus zu werden. Aber vielleicht ist das gar nicht der Fall?
Vielleicht habe ich ganz andere Pläne? Außerdem steht es
ja noch in den Sternen, ob ich den Mörder vor Mühlhaus’
Abschied finde.« Mock wusste, dass das unaufrichtig
klang und dass er Piontek damit nicht täuschen konnte.
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Der beugte sich noch einmal zu Mocks Ohr, was bei den
beiden vorbeigehenden Frauen Entrüstung hervor rief.
»Sie haben den Mörder doch schon gefunden. Es ist Isi-
dor Friedländer. Gestern Abend hat er gestanden. Bei uns
im »Braunen Haus« in der Neudorfstraße. Aber davon
wissen nur mein Assistent Schmidt und ich. Wenn Sie es
wollen, Herr Rat, dann werden wir beide schwören, dass
Sie Friedländer dazu gebracht haben, sein Geständnis im
Polizeipräsidium abzulegen.« Piontek nahm Mocks Hand
in seine und bog die Finger zu einer Faust. »Sehen Sie: Da haben Sie Ihre Karriere in der eigenen Hand.«
Breslau, 16. Mai 1933.
Zwei Uhr nachts
Mock schreckte mit einem erstickten Schrei aus dem
Schlaf hoch. Das Federbett drückte auf seine Brust, und
sein schweißnasses Nachthemd klebte am Körper. Er warf
die Decke mit einer heftigen Bewegung ab, stand auf, ging
in sein Arbeitszimmer, knipste die Schreibtischlampe mit
dem grünen Schirm an und stellte die Schachfiguren auf.
Vergeblich versuchte er, die Nachtmahre seines geplagten
Gewissens zu verjagen. Noch einmal tauchte der Alb-
traum vor ihm auf: Ein hinkendes kleines Mädchen hatte
ihm direkt in die Augen gesehen. Obwohl zwischen ihnen
der Fluss lag, hatte er ihren leidenschaftlichen, hasserfüllten Blick genau erkennen können. Und da sah er auch
schon, wie die Frau des Vorwerk-Statthalters auf ihn zu-
kam. Sie ging schwankend. Ihr Gesicht war von einem
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scheußlichen Ausschlag entstellt. Sie setzte sich neben ihn, zog ihr Kleid weit nach oben und spreizte die Beine. Ihre
Schenkel und ihr Unterleib waren mit riesigen, syphiliti-
schen Geschwüren übersät.
Mock öffnete weit das Fenster und kehrte zurück in
den sicheren Schein des grünen Lichts. Er wusste, dass er
in dieser Nacht nicht mehr einschlafen würde. Beide Ge-
stalten seines Traumes trugen wohl bekannte Züge. Das
Mädchen – Marietta von der Malten, die syphilitische
Mänade – Françoise Debroux.
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»Schlesische Tageszeitung« vom 19. Mai 1933:
Seite 1.: Eberhard Mock. Kriminalrat der Breslauer Polizei, konnte nach wenigen Tagen der Fahndung den Mörder von Baronesse Marietta von der Malten, deren Gouvernante Françoise Debroux sowie des Kondukteurs des Salonwagens Franz Repell dingfest machen. Es handelt sich um den sechzigjährigen, gei-steskranken Händler Isidor F. Mehr auf S. 3.
Seite 3.: Isidor F. ermordete auf außergewöhnlich grausame Art die siebzehnjährige Baronesse und deren Gesellschafterin, die zweiundvierzigjährige Françoise Debroux. Er vergewaltigte beide Opfer und schlitzte ihnen den Bauch auf. Zuvor hatte er den Kondukteur des Salonwagens betäubt und dem Bewusstlosen zwei Skorpione unter das Hemd gesteckt, durch deren tödliche Bisse der Unglückliche starb. Das Abteil verunstaltete F.
mit einer Schmiererei in koptischer Sprache: »Den Armen wie den Reichen – Tod und Verderben!«
Der Epileptiker Isidor F. war seit längerer Zeit bei Doktor Weinsberg im Jüdischen Spital in Behandlung. In dessen ärzt-lichem Gutachten heißt es: »Nach seinen epileptischen Anfällen befand sich der Kranke für längere Zeit in einem Zustand der Bewusstseinstrübung, auch wenn er den Eindruck machte, als wäre er wieder ganz bei sich. Nach den Anfällen machte sich regelmäßig eine seit seiner Jugendzeit bestehende Schizophrenie wieder bemerkbar. Er war dann unberechenbar, schrie in vielen unbekannten Sprachen und wurde von entsetzlichen, apokalyptischen Visionen heimgesucht. Wenn er sich in diesem Zustand befand, war er zu allem fähig.«
Der Angeklagte befindet sich derzeit an einem nur der Polizei bekannten Ort. Der Prozess wird in einigen Tagen stattfinden.
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»Völkischer Beobachter« vom 20. Mai 1933:
Seite 1.: Ein abscheulicher Jude hat zwei deutsche Frauen geschändet und massakriert. Davor ermordete er auf perfide Art den deutschen Zugführer. Diese himmelschreiende Bluttat verlangt nach
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