Tod in Breslau
Rache.
»Berliner Morgenpost« vom 21. Mai 1933:
Seite 2.: Heute Nacht verübte der Breslauer Bluthund Isidor Friedländer in seiner Zelle Selbstmord. Sich selbst nahm er auf ähnlich makabere Weise das Leben wie seinen Opfern: Er biss sich die Schlagadern durch …
»Breslauer Zeitung« vom 2. Juli 1933:
Einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Kriminaldirektor Eberhard Mock, dem neuen Chef der Kriminalpolizeileitstelle im Breslauer Polizeipräsidium, finden Sie auf S. 3:
»Woher kannte Friedländer die koptische Sprache?«
»Er hat an der Talmud-Hochschule in Lublin semitische
Sprachen studiert.«
»Der Täter hat einen koptischen Text mit altsyrischen
Schriftzeichen an die Wand geschrieben. Dies wäre sogar für einen hervorragenden Semitisten eine schwierige Aufgabe,
hingegen für einen durchschnittlichen Absolventen der jüdischen Talmud-Schule fast nicht durchführbar …«
»Der Angeklagte hatte nach seinen Anfällen apokalyptische
Visionen, er befand sich dann in einem tranceähnlichen Zu-
stand, in dem er sich in verschiedenen, ihm selbst unbekannten Sprachen artikulierte. Dabei kamen wieder Symptome ei-
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ner seit seiner Kindheit bestehenden schweren Schizophrenie zum Tragen. Er entwickelte dann fast übernatürliche Fähigkeiten und konnte in diesem Zustand auch sonst für ihn unlösba-re Aufgaben bewältigen.«
»Letzte Frage: Können die Breslauer wieder ruhig schlafen?«
»Die Einwohner einer so großen Stadt wie Breslau sind na-
türlich öfter Gefahren ausgesetzt als die Menschen aus der Provinz. Wir werden diesen Gefahren entgegenwirken. Wenn
– Gott behüte! – weitere derartige Verbrecher hier ihr Unwesen treiben sollten, werde ich ganz gewiss dafür sorgen, dass auch diese hinter Schloss und Riegel gebracht werden.«
III
Berlin, Samstag, 4. Juli 1934.
Halb sechs Uhr morgens
Herbert Anwaldt öffnete die Augen und schloss sie sofort
wieder. Er hoffte inständig, dass sich alles um ihn herum
nur als düstere Halluzination herausstellte, wenn er sie
erneut öffnete. Doch seine Hoffnung wurde enttäuscht:
Die schmutzige Absteige, in der er sich befand, war eine
unumstößliche Tatsache, unwandelbare Realität. In An-
waldts Kopf lief ein Tonband, das ununterbrochen den
Refrain des Schlagers von Marlene Dietrich wiederholte,
den er gestern gehört hatte: »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt …«
Vorsichtig bewegte er einige Male den Kopf. Ein dump-
fer Schmerz breitete sich langsam unter seiner Schädeldek-
ke aus und kroch in seine Augenhöhlen. Sein Mund war
vom üblen Geschmack unzähliger Zigaretten erfüllt. An-
waldt kniff die Lider fest zusammen. Der Schmerz wurde
intensiver und unbarmherziger. In seinem Rachen steckte
ein dicker, brennender Klumpen von Erbrochenem und
süßem Wein. Er schluckte – und fühlte einen glühenden
Druck durch seine ausgetrocknete Speiseröhre hinabglei-
ten. Anwaldt wollte nicht trinken – er wollte sterben.
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Endlich öffnete er die Augen ganz und setzte sich im
Bett auf. Seine Schläfenknochen knirschten, als ob sie in
einem Schraubstock steckten. Als er sich umblickte,
musste er feststellen, dass er den Raum, in dem er sich
befand, zum ersten Mal sah. Neben ihm lag eine offenbar
betrunkene Frau in einem schmutzigen, glitzernden Un-
terrock. Am Tisch schlief ein Mann im Unterhemd. Seine
riesige, mit einem tätowierten Anker geschmückte Hand
drückte eine umgeworfene Flasche fast liebevoll auf das
feuchte Wachstuch der Tischdecke. Auf dem Fensterbrett
erlosch gerade eine Öllampe. Ein heller Streifen Morgen-
dämmerung drang in den Raum.
Anwaldt warf einen Blick auf sein Handgelenk, wo er
seine Armbanduhr vermutete. Sie war nicht da. Ach ja, er
hatte sie gestern in einem Anfall von Mitgefühl einem
Bettler gegeben. Die hartnäckige Frage, wie er von hier
fortkommen könnte, quälte ihn. Zudem konnte er seine
Kleider nirgends entdecken. Auch wenn er viel für extra-
vagante Ideen übrig hatte, so wäre er doch nicht soweit
gegangen, in Unterhosen auf die Straße zu treten. Mit Er-
leichterung stellte er fest, dass ihm, wie es im Waisenhaus üblich gewesen war, seine Schuhe an den Schnürsenkeln
zusammengebunden um den Hals baumelten.
Er stand auf und wäre um ein Haar hingefallen. Auf
dem nassen Fußboden riss es ihm die Beine auseinander,
er warf die Arme ruckartig in die Luft und konnte sich
gerade noch mit der einen Hand an einem leeren Kinder-
bett festhalten. Die andere
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