Tod in Breslau
Hand griff nach einem Tisch-
chen, auf das jemand einen Aschenbecher ausgeleert hat-
te.
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In seinem Kopf hämmerte es mit unverminderter Ge-
walt, er atmete schwer, ein Röcheln entrang sich seiner
Kehle. Einen Moment lang kämpfte er mit sich: Er wollte
sich zu der betrunkenen Frau legen, aber als er sie ansah
und den üblen Geruch wahrnahm, der ihrer Mundhöhle
mit den schlechten Zähnen entströmte, verwarf er diesen
Gedanken mit Entschiedenheit. In einer Zimmerecke
entdeckte er seinen zerknitterten Anzug. So rasch er nur
konnte, kleidete er sich in der Dunkelheit des Stiegenhau-
ses an und wankte auf die Straße, deren Namen er sich
einprägte: Weserstraße. Wie er hierher geraten war,
wusste er nicht mehr. Er pfiff einer vorbeifahrenden
Droschke. Es waren jetzt bereits fünf Tage, die Kriminal-
assistent Herbert Anwaldt unausgesetzt betrunken war.
Mit nur kurzen Unterbrechungen hatte er allerdings
schon die letzten sechs Monate getrunken.
Berlin, Donnerstag, 5. Juli 1934.
Acht Uhr morgens
Kriminalkommissar Heinrich von Grappersdorff schäum-
te vor Wut. Er schlug mit der geballten Faust auf den
Tisch und brüllte aus voller Kehle. Anwaldt glaubte, dass
der heftig geschwollene Stiernacken seines Chefs jeden
Moment seinen schneeweißen Hemdkragen sprengen
würde. Ansonsten machte er sich allerdings nicht allzu
viele Sorgen wegen des Gezeters. Zum einen, weil sein
Kater alle äußeren Eindrücke nur wie durch dichten Ne-
bel gedämpft in seinen Kopf vordringen ließ, zum ande-
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ren wusste er, dass der »Büffel aus Stettin« eigentlich
noch gar nicht richtig in Rage geraten war.
»Da, schauen Sie sich doch an!« Von Grappersdorf
packte seinen Assistenten an den Schultern und zerrte
ihn vor einen Spiegel mit geschnitztem Rahmen. Diese
Geste empfand Anwaldt durchaus als angenehm – als wä-
re es eine raue, männliche Zuneigungsbekundung. Aus
dem Glas blickte ihm ein hagerer, dunkelhaariger und
unrasierter Mann entgegen. Das von roten Äderchen
durchzogene Weiß seiner Augen verschwand fast unter
seinen geschwollenen Augenlidern, die blasse Haut seiner
eingefallenen Wangen und die von tiefen Furchen durch-
zogene Stirn, an der seine wirren Haare klebten – das al-
les verriet deutlich seine fünftägige Sauftour.
Von Grappersdorff ließ Anwaldt jäh los und wischte
sich angewidert die Hände ab. Er stellte sich hinter seinen Schreibtisch und nahm wieder die Pose eines Donnerge-waltigen ein.
»Wie alt sind Sie, sagen Sie? Dreißig Jahre? Sie sehen
mindestens aus wie vierzig. Als wären Sie gerade aus der
Gosse gestiegen, verhurt und versoffen. Und das wegen
einer Kanaille, die eine Unschuldsmiene zur Schau trägt,
als könnte sie kein Wässerchen trüben. Es dauert nicht
mehr lange, und jeder mickrige Berliner Bandit kann Sie
für einen Humpen Bier kaufen! Aber ich will hier bei mir
kein käufliches Gesindel haben!« Er holte Luft und pol-
terte weiter: »Sie sind gefeuert, Schnapswaldt! Und zwar
fristlos! Wegen unentschuldigten Fernbleibens fünf Tage
lang!«
Der Kommissar ließ sich in den Sessel fallen und zün-
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dete sich eine Zigarre an. Er fixierte seinen einstmals besten Mitarbeiter durch die dicken Rauchwolken hin-
durch. Die Wirkung von Anwaldts Kater hatte nachgelas-
sen. Es dämmerte ihm, dass er in Kürze ohne Gehalt sein
würde und er dann von Alkohol bestenfalls träumen
könnte. Dieser Gedanke wirkte sofort. Er blickte seinen
Chef flehentlich an. Der hatte sich gerade mit geheuchel-
tem Interesse in einen Rapport vom Vortag vertieft. Von
Grappersdorff wartete einen Moment, sah dann auf und
versetzte barsch:
»Die Entlassung betrifft Ihren Einsatz bei der Berliner
Polizei. Ab morgen werden Sie Ihren Dienst im Breslauer
Präsidium antreten. Eine sehr bedeutende Persönlichkeit
möchte Sie mit einer schwierigen Mission betrauen. Na,
was sagen Sie? Gefällt Ihnen mein Angebot, oder ziehen
Sie es vor, am Kurfürstendamm betteln zu gehen? Zumal
Ihre zukünftigen Kumpane vielleicht gar nicht bereit sein
werden, dort noch ein Plätzchen für Sie freizumachen …«
Anwaldt bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen.
Er konnte nicht einmal über das Angebot von Grappers-
dorff nachdenken, da er seine ganze Kraft daransetzen
musste, ein Schluchzen zu unterdrücken. Jetzt war die
Rage seines Vorgesetzten echt:
»Was ist, gehst du nach Breslau oder nicht, du Penn-
bruder?!«
Anwaldt nickte. Augenblicklich beruhigte sich
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