Tod in Breslau
Treffen. Als
Nächstes ging er mit der Liste der dreiundachtzig Namen
zu Mock. Auf dem Korridor begegnete er Forstner, der
gerade vom Chef kam. Anwaldt war verwundert, Forstner
am Sonntag hier anzutreffen, und wollte gerade einen
Scherz über die lange Arbeitszeit bei der Polizei machen,
aber Forstner rauschte wortlos an ihm vorüber und ha-
stete die Treppe hinunter. (So sieht wohl ein Mensch aus, dem Mock gerade eine Schlinge um den Hals gelegt hat.) Forstner trug jedoch schon geraume Zeit den Kopf in der
Schlinge, und Mock zog sie lediglich von Zeit zu Zeit ein
wenig fester zu. Und ebendas hatte er gerade getan.
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Breslau, 8. Juli 1934.
Halb drei Uhr nachmittags
SS-Standartenführer Erich Kraus trennte alles Berufliche
strikt von seinen Privatangelegenheiten. Letzterem wid-
mete er selbstredend einen wesentlich geringeren Teil
seiner Zeit, den er zudem streng geregelt hatte. So diente der Sonntag nur der Erholung: Kraus hatte die Gewohnheit, zwischen vier und fünf Uhr, wenn er den Nachmit-
tagsschlaf beendet hatte, ein Erziehungsgespräch mit sei-
nen vier Söhnen zu führen. Die Buben saßen um den
großen runden Tisch und mussten dem Vater von ihren
Fortschritten in der Schule berichten, von ihren treuen
Diensten in der Hitlerjugend und von ihren hehren Vor-
sätzen, die sie im Namen des Führers gefasst hatten.
Kraus ging dabei im Zimmer auf und ab, kommentierte
gutmütig alles und tat so, als ob er die verstohlenen Blik-ke auf die Uhr und das unterdrückte Gähnen nicht be-
merkte.
Doch seinen ersten Sonntag in Breslau konnte er nicht
als Privatmensch verbringen. Der bittere Gedanke an
Generalmajor Rainer von Hardenburg, Chef der Breslau-
er Abwehr, verdarb ihm sogar den Appetit beim Mittag-
essen. Kraus, der Sohn eines dem Alkohol zugeneigten
Maurers, stammte aus Frankenstein, und er hasste Har-
denberg, diesen steifen Aristokraten mit Monokel, aus
tiefstem Herzen. Nachdem er achtlos sein zartes Schnitzel
mit gerösteten Zwiebeln hinuntergeschlungen hatte,
spürte er, wie die Galle in ihm aufstieg. Rasend vor Wut
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sprang er auf, schleuderte seine Serviette zornig auf den
Tisch, ging in sein Arbeitszimmer und rief zum x-ten Mal
heute bei Forstner an. Statt jedoch endlich detaillierte
Auskünfte über Anwaldt zu erhalten, bekam er lediglich
eine halbe Minute das Tuten des Freizeichens zu hören.
(Wo sich dieser Hurensohn nur wieder herumtreibt!) Er wählte Mocks Nummer, aber als dieser abhob, warf er erschrocken den Hörer wieder auf die Gabel. (Von diesem
Speichellecker kann ich nichts erfahren, was ich nicht schon wüsste!) Dass er gegen von Hardenburg, den er noch aus Berlin kannte, nichts ausrichten konnte, damit
konnte Kraus schon fertig werden. Mock hingegen ließ
ihn fast so etwas wie Verachtung spüren, und das verletz-
te seine Eigenliebe besonders empfindlich.
Er lief wie ein wütendes Raubtier unentwegt um den
Tisch herum. Plötzlich jedoch blieb er stehen und schlug
sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. (Zum Teufel, diese Hitze macht einen ganz fertig! Ich kann wohl schon nicht mehr denken!) Er machte es sich in seinem Sessel bequem und hob den Hörer des Telefons ein zweites Mal.
Zunächst rief er Hans Hoffmann an, dann Mock. Dem
einen wie dem anderen erteilte er in nun reserviertem
Ton einige Befehle. Doch gegen Ende des Gesprächs mit
Mock änderte sich seine Stimme, und der unterkühlte
Ton des souveränen Vorgesetzten wandelte sich in rasen-
des Gebrüll.
Mock wollte nämlich am Abend nach Soppot fahren.
Diesen Entschluss hatte er kurz nach seinem Besuch bei
Winkler gefasst. Kraus’ Anruf hatte ihn aus seinem
Nachmittagsschlaf aufschrecken lassen. Der Gestapo-
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Mann erinnerte Mock zuerst sanft daran, dass er von der
Geheimpolizei abhängig sei, und verlangte einen schrift-
lichen Bericht über Anwaldts Tätigkeit bei der Abwehr,
aber Mock verweigerte ihm dies mit ruhiger Stimme.
Dann bemerkte er noch mit Nachdruck, dass ihm eine
Ruhepause zustehe und dass er beabsichtige, noch am
selben Abend nach Soppot zu fahren.
»Ah so. Und was ist mit Ihrer Freundin?«
»Ach, die Freundinnen … manchmal hat man eine,
manchmal keine. Sie wissen ja, wie das ist …«
»Das weiß ich nicht!!!«
Breslau, 8. Juli 1934.
Drei Uhr nachmittags
Hans Hoffmann war schon immer Geheimpolizist ge-
wesen, jedenfalls solange er zurückdenken konnte. Er
hatte schon unter dem Kaiser gedient, später während
der Weimarer
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