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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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betrachten,
    sehen wir, dass mehrere Möglichkeiten der Interpretation
    existieren. Es wäre genauso gut möglich gewesen, dass die
    in F.s Voraussage gemeinte Person den Namen ›Weiß-
    wasser‹ trüge – in Breslau sind fünfzehn Familien dieses
    110
    Namens wohnhaft. Es hätte also auch sein können, dass
    ein gewisser Herr Weißwasser einen Angina-pectoris-
    Anfall (›Mund‹, ›Atem‹) während des Sonnenbadens
    (›Sonne‹) erlitten hätte. Das Opfer hätte auch Sonnen-
    mund (›Mund‹, ›Sonne‹) heißen können – der Name
    kommt in Breslau dreimal vor. Eine Möglichkeit der pro-
    gnostizierten Todesart: Er könnte einen bestimmten
    Schnaps (hier den Danziger Likör Goldwasser ) in die falsche Kehle bekommen und infolgedessen erstickt sein
    (›Atem‹).
    Sicherlich hätten wir die übrigen Fälle ebenso auf vie-
    lerlei Art und Weise auslegen können. Das ist auch einer
    der Gründe, warum wir die Liste derjenigen Namen nicht
    veröffentlichen, denen sich bisher kein Todesfall zuord-
    nen lässt. Nur so viel sei gesagt, dass die Liste dreiund-
    achtzig mögliche Namen umfasst und eine beinahe eben-
    so große Zahl diverser Todesarten, beide konstruiert
    durch das Kombinieren der hebräischen Worte auf
    Grund von abgeleiteten Wahrscheinlichkeiten.
    Disqualifizieren die verschiedenen Möglichkeiten der
    Auslegung nun die Prognosen des Isidor F.? Keineswegs.
    Aber die verworrenen und düsteren Vorhersagen unseres
    Patienten nehmen dem Menschen jegliche Möglichkeit,
    sich bewusst seinem Schicksal zu stellen. Man kann sich
    daher keinen bösartigeren und grausameren Fatalismus
    vorstellen als eine Liste von dreiundachtzig angenomme-
    nen Namen zu veröffentlichen, von denen nur dreizehn
    Personen eines tragischen Todes sterben werden. Und es
    werden tatsächlich dreizehn ums Leben kommen (ein
    Gesamt von 23 Prophezeiungen, von denen 10 offenbar
    111
    bereits eingetreten sind), vielleicht aber auch nur zwölf oder zehn. Und genauso ist es möglich, dass wir nach einer gewissen Zeit die Sterbeakten kontrollieren und Op-
    fer entdecken, die nicht auf der Liste standen, aber von
    den Vorhersagen des Isidor F. Betroffene waren. Der
    Mensch ist, wenn es um seine Zukunft geht, eine Beute
    der Harpyien und dämonischer Mächte, er ist eine hilflo-
    se Marionette, deren stolze Unabhängigkeit am sibyllini-
    schen Klang des Hebräischen zerschellt und deren missa defunctorum nur das Hohngelächter eines selbstzufriede-nen Demiurgen ist.«
    Nach diesem pathetischen Höhepunkt folgten noch ei-
    nige ermüdende wissenschaftliche Ausführungen, in de-
    nen Friedländer mit bekannten Hellsehern und den ver-
    schiedensten Medien, die in Trance wahrsagten, vergli-
    chen wurde. Mit sinkendem Interesse las Anwaldt Weins-
    bergs Artikel zu Ende und machte sich dann an das
    Studium der dreiundachtzig Interpretationen, ein dicker,
    mit Messingklammern zusammengehaltener Packen von
    Dokumenten, der sich inmitten der anderen Materialien
    und Notizen befand. Auch das langweilte ihn bald. Als
    das viel versprechendste hatte er sich die Phonoaufnah-
    men Friedländers aufgespart. Er spürte, dass sie etwas mit dem Tod der Baronesse zu tun haben könnten. Er stellte
    das Grammofon an und lauschte den geheimen Botschaf-
    ten. Er wusste, was er tat, war vollkommen unsinnig,
    denn Anwaldt hatte im Gymnasium das Wahlfach Bibel-
    sprachen immer ausgelassen – er konnte also von der
    Aufnahme etwa ebenso viel verstehen wie von einer Ra-
    diosendung in der Quechua-Sprache. Aber allein die rau-
    112
    en Klänge versetzten ihn in fiebrige Anspannung und rie-
    fen eine ebensolche Faszination hervor, wie er sie bei seiner ersten Begegnung mit den kantigen griechischen
    Schriftzeichen empfunden hatte. Die Geräusche, die
    Friedländer von sich gab, klangen beinahe erstickt, es wa-
    ren röchelnde und zischende Laute, die nicht selten klan-
    gen, als zerrisse ihm die aus der Lunge gepresste Luft fast den Kehlkopf. Nach zwanzig Minuten brachen die unablässig wiederholten Laute des Refrains ab.
    Anwaldt hatte Durst. Es dauerte eine Weile, bis er den
    Gedanken an ein kühles, schäumendes Bier verdrängt
    hatte. Er stand auf, packte alle Materialien außer der Plat-te in einen Pappkarton und ging in den ehemaligen La-
    gerraum für Büromaterialien, der, nun mit Schreibtisch
    und Telefon ausgestattet, sein Arbeitszimmer war – das
    Arbeitszimmer des Referenten für Spezialfälle. Von hier
    rief er Doktor Maass an und vereinbarte ein

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