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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Augen zwei Mädchen, die vor der
    rötlichen Kasernenmauer spazierten. Schweißflecke ver-
    färbten den Stoff seines Jacketts unter den Achseln.
    103
    »Glauben Sie denn, dass ich einen Zusammenstoß mit
    von Woyrsch oder Kraus riskieren möchte? Wegen eines
    Quacksalbers, der den Zeitungen irgendeinen Mumpitz
    weisgemacht hat?«
    Mock konnte in Anwaldts Augen deutlich eine Ironie
    erkennen, die seine Gedanken verriet: »Aber gib ruhig zu,
    Mann, dass dieser Mumpitz dir nicht unwesentlich bei
    deiner Karriere behilflich war!«
    IV
    Breslau, Sonntag, 8. Juli 1934.
    Mittags

    Anwaldt saß im Polizeilabor, studierte das Material von
    Weinsberg, und in ihm wuchs die Überzeugung, dass es
    doch übersinnliche Phänomene geben müsse. Ihm fiel
    seine Zeit im Waisenhaus ein – und Schwester Elisabeth.
    Nachdem die kleine, unscheinbare Person, die so gewin-
    nend lächeln konnte, eingezogen war, geschahen dort un-
    erklärliche und Besorgnis erregende Dinge. Niemals zu-
    vor oder auch danach war es vorgekommen, dass des
    Nachts eine Prozession von schweigenden Gestalten in
    Pyjamas durch das Haus zog, dass in den Toiletten die
    gusseisernen Deckel der Wasserbehälter mit ohrenbetäu-
    bendem Lärm hinunterfielen, dass im Gemeinschafts-
    raum plötzlich eine dunkle Gestalt auftauchte und sich
    ans Klavier setzte oder dass das Telefon jeden Tag um
    dieselbe Uhrzeit läutete. Erst als Schwester Elisabeth wieder gegangen war – übrigens auf ihre eigene Bitte hin –
    war Schluss mit dem Spuk.
    Aus den Niederschriften von Weinsberg ging hervor,
    dass Friedländer nicht wie Schwester Elisabeth derartige
    mysteriöse Ereignisse hervorrief – sondern sie voraussah.
    105
    Kurz nach einem epileptischen Anfall stieß er fünf oder
    sechs Worte hervor, die er in einem fort wiederholte wie
    einen düsteren Refrain. Doktor Weinsberg hatte etwa
    fünfundzwanzig solcher Vorfälle registriert, bei dreiund-
    zwanzig von ihnen hatte er sich Notizen gemacht und
    zwei hatte er sogar auf einer Grammofonplatte aufneh-
    men können. Das gesammelte Material hatte er genaue-
    stens analysiert und die Ergebnisse in der zwanzigsten
    Ausgabe der jährlich erscheinenden »Zeitschrift für Para-
    psychologie und Metaphysik« veröffentlicht. Sein Artikel
    trug den Titel »Die thanatologischen Prognosen des Isi-
    dor F.«. Anwaldt hielt einen Sonderabdruck dieses Arti-
    kels in den Händen und überflog die Ausführungen
    Weinsbergs:
    »Es steht außer Zweifel, dass sich der Patient bei seinen
    Ausrufen des Althebräischen bediente. Zu diesem Schluss
    kam der Berliner Semitist Prof. Arnold Schorr nach
    dreimonatiger Analyse. Dessen sprachwissenschaftliche
    Expertise beweist dies unwiderlegbar und steht zur Ein-
    sicht jedem Wissenschaftler zur Verfügung. Jede einzelne
    prophetische Äußerung des Patienten besteht aus zwei
    Teilen: Es sind dies der chiffrierte Name des Opfers sowie die Umstände, unter denen sein Tod eintreten wird.
    Nach dreijähriger Beschäftigung mit dem Fall ist es uns
    gelungen, dreiundzwanzig der fünfundzwanzig Prophe-
    zeiungen zu dechiffrieren. Im Falle der verbleibenden
    zwei bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen, auch wenn
    von ihnen Tonaufnahmen existieren. In zehn Fällen
    stimmt der Inhalt der Ausrufe des Patienten mit den Tat-
    sachen überein, dreizehn der Prophezeiungen betreffen
    106
    jedoch noch lebende Personen. Es muss betont werden,
    dass die Mehrzahl der von den Voraussagen Betroffenen
    dem Patienten persönlich nicht bekannt waren – ein Um-
    stand, den seine Tochter bestätigt hat. Es gibt zwei Eigenschaften, die allen Personen gemeinsam sind: 1. Alle leb-
    ten oder leben in Breslau. 2. Die hiervon bereits Verstor-
    benen sind auf tragische Art ums Leben gekommen.
    Es existiert eine conditio sine qua non für das Verständnis der Prophezeiungen, namentlich die Entschlüs-
    selung des Codes, mittels dessen die Namen der Opfer
    chiffriert worden sind. Dieser Code gründet auf den zwei
    Elementen einer jeden sprachlichen Äußerung: ihrem
    Klang sowie ihrer Bedeutung. So haben wir zum Beispiel
    das hebräische Wort geled – ›Haut‹ in den Ausführungen Friedländers als den Familiennamen Gold interpretieren
    können, da beide Worte klanglich und in Art und Anzahl
    der Konsonanten (g, l, d) übereinstimmen. Es muss je-
    doch ergänzt werden, dass die Verschlüsselung eines
    Namens durch den Patienten auch in der anderen oben
    erwähnten Weise, nämlich die Bedeutung des von ihm
    verwendeten Ausdrucks

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