Tod in Breslau
Augen zwei Mädchen, die vor der
rötlichen Kasernenmauer spazierten. Schweißflecke ver-
färbten den Stoff seines Jacketts unter den Achseln.
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»Glauben Sie denn, dass ich einen Zusammenstoß mit
von Woyrsch oder Kraus riskieren möchte? Wegen eines
Quacksalbers, der den Zeitungen irgendeinen Mumpitz
weisgemacht hat?«
Mock konnte in Anwaldts Augen deutlich eine Ironie
erkennen, die seine Gedanken verriet: »Aber gib ruhig zu,
Mann, dass dieser Mumpitz dir nicht unwesentlich bei
deiner Karriere behilflich war!«
IV
Breslau, Sonntag, 8. Juli 1934.
Mittags
Anwaldt saß im Polizeilabor, studierte das Material von
Weinsberg, und in ihm wuchs die Überzeugung, dass es
doch übersinnliche Phänomene geben müsse. Ihm fiel
seine Zeit im Waisenhaus ein – und Schwester Elisabeth.
Nachdem die kleine, unscheinbare Person, die so gewin-
nend lächeln konnte, eingezogen war, geschahen dort un-
erklärliche und Besorgnis erregende Dinge. Niemals zu-
vor oder auch danach war es vorgekommen, dass des
Nachts eine Prozession von schweigenden Gestalten in
Pyjamas durch das Haus zog, dass in den Toiletten die
gusseisernen Deckel der Wasserbehälter mit ohrenbetäu-
bendem Lärm hinunterfielen, dass im Gemeinschafts-
raum plötzlich eine dunkle Gestalt auftauchte und sich
ans Klavier setzte oder dass das Telefon jeden Tag um
dieselbe Uhrzeit läutete. Erst als Schwester Elisabeth wieder gegangen war – übrigens auf ihre eigene Bitte hin –
war Schluss mit dem Spuk.
Aus den Niederschriften von Weinsberg ging hervor,
dass Friedländer nicht wie Schwester Elisabeth derartige
mysteriöse Ereignisse hervorrief – sondern sie voraussah.
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Kurz nach einem epileptischen Anfall stieß er fünf oder
sechs Worte hervor, die er in einem fort wiederholte wie
einen düsteren Refrain. Doktor Weinsberg hatte etwa
fünfundzwanzig solcher Vorfälle registriert, bei dreiund-
zwanzig von ihnen hatte er sich Notizen gemacht und
zwei hatte er sogar auf einer Grammofonplatte aufneh-
men können. Das gesammelte Material hatte er genaue-
stens analysiert und die Ergebnisse in der zwanzigsten
Ausgabe der jährlich erscheinenden »Zeitschrift für Para-
psychologie und Metaphysik« veröffentlicht. Sein Artikel
trug den Titel »Die thanatologischen Prognosen des Isi-
dor F.«. Anwaldt hielt einen Sonderabdruck dieses Arti-
kels in den Händen und überflog die Ausführungen
Weinsbergs:
»Es steht außer Zweifel, dass sich der Patient bei seinen
Ausrufen des Althebräischen bediente. Zu diesem Schluss
kam der Berliner Semitist Prof. Arnold Schorr nach
dreimonatiger Analyse. Dessen sprachwissenschaftliche
Expertise beweist dies unwiderlegbar und steht zur Ein-
sicht jedem Wissenschaftler zur Verfügung. Jede einzelne
prophetische Äußerung des Patienten besteht aus zwei
Teilen: Es sind dies der chiffrierte Name des Opfers sowie die Umstände, unter denen sein Tod eintreten wird.
Nach dreijähriger Beschäftigung mit dem Fall ist es uns
gelungen, dreiundzwanzig der fünfundzwanzig Prophe-
zeiungen zu dechiffrieren. Im Falle der verbleibenden
zwei bin ich auf Schwierigkeiten gestoßen, auch wenn
von ihnen Tonaufnahmen existieren. In zehn Fällen
stimmt der Inhalt der Ausrufe des Patienten mit den Tat-
sachen überein, dreizehn der Prophezeiungen betreffen
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jedoch noch lebende Personen. Es muss betont werden,
dass die Mehrzahl der von den Voraussagen Betroffenen
dem Patienten persönlich nicht bekannt waren – ein Um-
stand, den seine Tochter bestätigt hat. Es gibt zwei Eigenschaften, die allen Personen gemeinsam sind: 1. Alle leb-
ten oder leben in Breslau. 2. Die hiervon bereits Verstor-
benen sind auf tragische Art ums Leben gekommen.
Es existiert eine conditio sine qua non für das Verständnis der Prophezeiungen, namentlich die Entschlüs-
selung des Codes, mittels dessen die Namen der Opfer
chiffriert worden sind. Dieser Code gründet auf den zwei
Elementen einer jeden sprachlichen Äußerung: ihrem
Klang sowie ihrer Bedeutung. So haben wir zum Beispiel
das hebräische Wort geled – ›Haut‹ in den Ausführungen Friedländers als den Familiennamen Gold interpretieren
können, da beide Worte klanglich und in Art und Anzahl
der Konsonanten (g, l, d) übereinstimmen. Es muss je-
doch ergänzt werden, dass die Verschlüsselung eines
Namens durch den Patienten auch in der anderen oben
erwähnten Weise, nämlich die Bedeutung des von ihm
verwendeten Ausdrucks
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