Tod in Breslau
zum stellvertretenden Chef der
Kriminalabteilung hatte seine Sensibilität und Wachsam-
keit beeinträchtigt. Als in der »Nacht der langen Messer«
Heines, Piontek und die ganze Führung der Breslauer SA
abgesetzt wurden, blieb Forstner – formell ein Mitarbei-
ter der Kriminalabteilung – zwar verschont, hatte aber
den Boden unter den Füßen verloren. Er war nun voll-
kommen abhängig von Mock. Ein winziger Hinweis an
Kraus über Forstners Kontakte hätte genügt, ihn von der
Bildfläche verschwinden zu lassen – gemeinsam mit all
denjenigen, die Forstner einstweilen noch deckten. Als
Homosexueller musste er sogar damit rechnen, von Kraus
mit doppelter Grausamkeit behandelt zu werden. Denn
dieser hatte schon am Tag seines Amtsantritts verkündet,
falls er in seiner Abteilung einem Schwulen auf die Schliche käme, werde der dasselbe Ende nehmen wie Heines. Selbst
wenn er diese Drohung im Falle Forstners, der einer ande-
ren Polizeiabteilung angehörte, nicht wahr machen könnte,
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so würde er ihm mit Sicherheit in Zukunft jede Unter-
stützung versagen. Und sicherlich wartete Mock nur auf
diesen Moment: Dann wäre Forstner für ihn ein gefun-
denes Fressen, auf das er sich mit dem größten Vergnü-
gen stürzen würde.
Forstner versuchte, seine Nerven mit einem vierten,
diesmal kleineren Schnaps zu beruhigen. Er vermischte
den Rest Kren mit dem ausgelaufenen Fett seines Würst-
chens und strich die Mischung auf ein Brötchen. Er
schluckte und verzog das Gesicht. Ihm war klar, dass es
Mock war, der an einem Ende des Strickes um seinen
Hals zog, und nicht Kraus. Schließlich fasste er einen
Entschluss: Er würde die Zusammenarbeit mit der Gesta-
po einstellen, solange Anwaldts Auftrag dauerte. Sein
Schweigen würde er vor Kraus mit der außerordentlichen
Geheimhaltung bei der Fahndung begründen. So wäre
sein Sturz nur mehr wahrscheinlich, aber nicht gewiss.
Wenn er es sich aber mit Mock verdarb, indem er die
Mitarbeit verweigerte, dann wäre die Katastrophe un-
ausweichlich.
Nachdem Forstner auf diese Art alle Wahrscheinlich-
keit und Wahrheit sortiert hatte, atmete er erleichtert auf.
Er schrieb in sein Notizbuch die formlose Anweisung
Mocks: »ein detailliertes Dossier über die Dienerschaft
des Baron Olivier von der Malten anlegen«. Dann hob er
das sechste Glas, und trank es mit einem Zug leer.
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Breslau. 8. Juli 1934.
Viertel nach drei Uhr nachmittags
Anwaldt saß in der Straßenbahnlinie 18 und betrachtete
abwesend die Pfeiler der Hängebrücke, über die er gerade
fuhr. Der Wagen rumpelte laut, rechter Hand zogen rote
Backsteinbauten und eine Kirche vorbei, die sich halb
hinter alten Kastanienbäumen verbarg, links standen so-
lide Bürgerhäuser. Die Bahn hielt auf einem sehr belebten
Platz. Anwaldt zählte die Stationen, an der nächsten
musste er aussteigen. Es ging rasch weiter, doch für An-
waldt nicht schnell genug: Er betete zum Himmel, dass er
zügig sein Ziel erreichte. Der Grund für sein Stoßgebet
war eine wild gewordene Wespe, die immerzu um seinen
Kopf kreiste. Zunächst hatte er vergeblich versucht, Ruhe
zu bewahren, hatte lediglich seinen Kopf mal nach rechts
gedreht und mal nach links. Diese Bewegungen schienen
das Insekt jedoch eher anzuziehen, besonders hatte es
Gefallen an seiner Nase gefunden. (Ich erinnere mich
noch an den Berliner Kolonialwarenladen, das klebrige
Glas mit Kirschkompott, die rasenden Wespen, die wie
verrückt um mich herumflogen und auf mich einstachen,
das Gelächter des Verkäufers, den Gestank der Zwiebel-
schalen, die man mir auf die Stiche legte.) Anwaldt verlor die Beherrschung und begann mit den Armen um sich zu
schlagen, bis er die Wespe getroffen hatte. Er hörte, wie
sie auf den Boden fiel, und wollte sie gerade mit einem
Tritt zerquetschen, als die Trambahn plötzlich scharf
bremsen musste – ein Polizist hatte im letzten Moment
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eine korpulente Dame von den Gleisen wegziehen kön-
nen. Die Wespe hatte sich erholt und setzte mit wüten-
dem Summen erneut zum Angriff an. Sie landete auf
Anwaldts Hand, aber anstatt eines Stiches spürte Anwaldt
den festen Schlag einer zusammengerollten Zeitung –
und das Knirschen des getroffenen Insekts. Er blickte
dankbar zu seinem Retter auf, einem eher klein gewach-
senen, sympathischen älteren Herrn, der das lästige Tier
nun mit seinem Schuh zertrat. Anwaldt bedankte sich
höflich (Irgendwie kommt mir der bekannt vor …)
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