Tod in Breslau
nicht, ob es Sie interessiert«, Maass bedachte
Anwaldt mit einem beleidigten Blick, »aber vor kurzem
ist die dritte Auflage meiner Hebräischgrammatik er-
schienen. Ich bin also in dieser Sprache einigermaßen sat-
telfest und brauche wohl keine Hilfe von einem Hoch-
stapler wie Andrae. Ein Hermann Winkler ist mir nicht
bekannt, und ich habe auch nicht das Bedürfnis, ihn ken-
nen zu lernen.«
Er wandte sich jäh zum Gehen, die Platte schob er un-
ter sein Jackett. »Adieu. Kommen Sie morgen bei mir
vorbei. Ich denke, ich werde bis dahin mit der Überset-
zung fertig sein.« Seine Stimme verriet immer noch seine
Gekränktheit.
Anwaldt ignorierte Maass’ bissigen Ton. Er versuchte,
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sich an die Frage zu erinnern, die er hatte stellen wollen.
Nervös verdrängte er seine Sehnsucht nach schäumen-
dem Bier und bemühte sich, das Geschrei der Kinder, die
auf der Allee herumliefen, zu überhören. Die Kronen der
Platanen bildeten eine Glocke, unter der die dichte
Staubwolke, die sich in der Hitze zusammengeballt hatte,
nicht abziehen konnte. Anwaldt fühlte, wie ein schmaler
Schweißbach zwischen seinen Schulterblättern hinunter-
floss. Er sah Maass an, der sichtlich auf eine Entschuldi-
gung wartete, und krächzte mit trockener Kehle:
»Doktor Maass, warum haben Sie Professor Andreae
einen Hochstapler genannt?«
Maass vergaß sofort seine Gekränktheit, lebhaft nahm
er das Gespräch wieder auf:
»Glauben Sie denn wirklich, dass dieser Banause kopti-
sche Inschriften entdeckt hat? Er hat ganz einfach alte Inschriften bearbeitet und dann auf der Grundlage dieser
Fälschung die koptische Grammatik modifiziert. Es wäre
ja wirklich eine großartige Entdeckung gewesen, hätte er
diese ›Entdeckung‹ nicht mit großem Fleiß selbst arran-
giert. Er war ganz einfach auf der Suche nach einem Ha-
bilitationsthema. Ich habe in den ›Semitischen Forschun-
gen‹ auf diesen Betrug hingewiesen. Wissen Sie, wie ich
da argumentiert habe?«
»Verzeihen Sie, Herr Maass, aber ich bin ein wenig in
Eile. Wenn ich einmal mehr Zeit habe, würde ich mich
gerne mit diesem faszinierenden Problem vertraut ma-
chen. Aber ich kann wohl daraus schließen, dass Sie und
Andreae nicht gerade gute Freunde sind, oder?«
Maass hatte die Frage nicht mehr gehört. Sein uner-
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sättliches Auge hatte die üppigen Formen zweier Mäd-
chen in Schuluniform entdeckt, die gerade vorbeigingen.
Das war auch dem älteren Herrn nicht entgangen, der so-
eben seine Zigarettenspitze ausklopfte.
Breslau, 8. Juli 1934.
Halb vier Uhr nachmittags
Forstner hatte innerhalb der letzten Viertelstunde den
dritten großen Schnaps hinuntergestürzt. Er nahm einen
großen Bissen von seinem Wiener Würstchen mit üppi-
ger Krenhaube. Der Alkohol beruhigte ihn nur wenig. Er
saß düster in einer diskreten Loge, die durch eine dunkel-
rote Portiere vom Rest des Saales abgeteilt war, und ver-
suchte mithilfe des scharfen Getränkes den Druck der
Schlinge ein wenig zu lockern, an der Mock vor einer
Stunde kräftig gezogen hatte. Das war nicht leicht, da an
jedem der beiden Enden eine mächtige und verhasste
Kraft saß: hier Eberhard Mock und dort Erich Kraus. Ge-
rade als er seine Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Straße
verlassen wollte, hatte er das schrille Telefonklingeln ge-hört. Er hatte sich schon denken können, dass es Kraus
war, der Informationen über Anwaldts Auftrag in Breslau
verlangte. Doch erst als er auf dem glühenden Trottoir an
der Straßenbahnhaltestelle stand, kam ihm seine eigene
Ohnmacht richtig zu Bewusstsein, Aber auch Mock,
Kraus und vor allem Baron von Köpperlingk befanden
sich in einer Zwangslage. Forstner verfluchte die wilden
Orgien in Köpperlingks Palais und in dessen Gärten in
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Kanth, wo nackte halbwüchsige Mädchen die Gäste mit
einem Getränk verwöhnten, das der Baron »Ambrosia«
nannte, während sich in den Bassins ebenfalls nackte
Tänzerinnen und Tänzer tummelten. Forstner hatte sich
unter den Fittichen des allmächtigen Piontek sicher ge-
fühlt, umso mehr als sein Chef das Privatleben und den
Umgang seines Assistenten nicht zur Kenntnis zu neh-
men schien. Und bisher hatte er sich wegen Mock nie-
mals Sorgen gemacht, auch wenn er von Piontek erfahren
hatte, dass der ehemalige Rat immer neue Informationen
über ihn erhielt – wenn Mock denn einer unglücklichen
Indiskretion von Baron Köpperlingk Glauben schenkte.
Der spektakuläre Aufstieg
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