Tod in Breslau
Hauses
an der Uferzeile 9 mit einem Fünfmarkschein davon zu
überzeugen, dass er einige Skizzen des zoologischen Gar-
tens im Abendlicht anfertigen wolle. Mit dem Schlüssel,
den der Mann ihm zugesteckt hatte, gelangte er auf den
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Dachboden und von dort über eine wackelige Leiter auf
ein Dach, das zum Glück nicht besonders steil war. Ein
weiterer Giebel befand sich etwa drei Meter über ihm.
Aus seinem Rucksack nahm er ein dickes Seil, an dessen
Ende ein dreifacher Stahlhaken befestigt war. Mehrmals
versuchte er, den Haken so emporzuschleudern, dass er
sich dort oben verfing und einen sicheren Halt bot. Das
allein dauerte fast zehn Minuten. Und es bereitete An-
waldt Mühe, auf das benachbarte Dach zu klettern. Als er
endlich dort angelangt war, zog er seine schmutzige Dril-
lichhose und den langen Malerkittel aus, und unter seiner
Verkleidung kamen Smoking und Lackschuhe zum Vor-
schein. Er vergewisserte sich, dass er seine Zigaretten ein-gesteckt hatte, und blickte sich um. Schnell fand er, wo-
nach er gesucht hatte: Unter einem dreieckigen Giebel
befand sich ein leicht angerostetes winziges Lüftungsfen-
ster. In dessen Rahmen hängte er den Haken seines Seils
und ließ sich vorsichtig einige Meter hinunter. Bald da-
rauf berührte er mit seinen Füßen das steinerne Geländer
eines Balkons. Dort verharrte er erschöpft, er atmete
schwer und war schweißüberströmt. Als er sich ein wenig
erholt hatte, wagte er einen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Zwei verschiedene Zimmer führten auf den
Balkon, und nach einem Moment erlosch in einem davon
das Licht. Anwaldt spähte angestrengt in das noch er-
leuchtete Fenster. Auf dem Fußboden wälzten sich zwei
Paare. Eine halbe Minute verging, bevor Anwaldt deren
komplizierte Verschlingungen begriff. Auf dem Sofa ge-
genüber lümmelte ein nackter, maskierter Mann, und
links und rechts von ihm kniete je ein Mädchen in Schul-
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uniform. Anwaldt schlich zum zweiten Fenster hinüber,
aus dem unheimliche Geräusche zu ihm drangen. Es war
das Schwirren einer Peitsche: Undeutlich erkannte er
zwei Mädchen in langen Stiefeln und schwarzen Unifor-
men, die einen mageren jungen Mann geißelten, der mit
Handschellen an den Kachelofen gekettet war. Der Mann
schrie jedes Mal laut auf, wenn die eisernen Enden der
Peitschenschnüre auf seinen Leib trafen, der sicherlich
bereits mit bläulichen Striemen übersät war.
Beide Fenster, denen Duftschwaden von Räucherwerk
entströmten, waren weit geöffnet. Im Inneren konnte
man die mehr oder weniger überzeugenden Lustschreie
mehrerer Frauen hören. Anwaldt trat durch die Balkon-
tür in das erste Zimmer. Wie er richtig angenommen hat-
te, nahm niemand Notiz von ihm. Mit umso größerer
Aufmerksamkeit beobachtete er das Geschehen um ihn
herum. Ohne Mühe konnte er das fliehende Kinn von
Maass und den Pigmentfleck auf der Hand einer der
»Gymnasiastinnen« ausmachen. Er verließ das Zimmer
und schloss sachte die Tür hinter sich. In die Wände des
langen Korridors waren einige Nischen eingelassen, in
denen schlanke Marmorstelen standen. Er folgte seinem
Instinkt, streifte Smoking und Hemd ab und hängte bei-
des über eine der kleinen Säulen. Von unten drangen die
sanften Klänge eines Streicherensembles zu ihm – er er-
kannte Haydns Kaiserquartett.
Anwaldt ging die Treppe hinunter, wo drei Doppeltü-
ren weit offen standen. Man hatte die gläsernen Trenn-
wände auseinander geschoben und so aus drei großen
Zimmern einen Saal von etwa dreißig Metern Länge ge-
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schaffen. Auf der ganzen Fläche verteilten sich kleine hölzerne Tische, auf denen sich Obstschalen, langstielige
Gläser und Eiskübel mit Flaschen befanden. Zwischen
den Tischchen zählte er wohl zwanzig kleine Sofas und
Chaiselongues, auf denen sich nackte Körper wie in Zeit-
lupe bewegten. Der Baron dirigierte das Quartett mit ei-
nem ganz besonderen Taktstock: ein menschlicher
Schienbeinknochen. Sein Diener mit den sanften Augen
war damit beschäftigt, großzügig Wein in die hohen Glä-
ser nachzuschenken. Er trug lediglich einen indianischen
Lendenschurz, der nur knapp seine Genitalien bedeckte,
unterbrach dann seine Tätigkeit kurz, um sich mit großer
Anmut zwischen den Gästen hindurchzuschlängeln und
Rosenblätter über ihnen auszustreuen. Seine Aufgabe war
es offenbar, dafür zu sorgen, dass jeder Gast zufrieden
war. Deshalb wunderte er sich auch sichtlich, als er
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