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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Hauses
    an der Uferzeile 9 mit einem Fünfmarkschein davon zu
    überzeugen, dass er einige Skizzen des zoologischen Gar-
    tens im Abendlicht anfertigen wolle. Mit dem Schlüssel,
    den der Mann ihm zugesteckt hatte, gelangte er auf den
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    Dachboden und von dort über eine wackelige Leiter auf
    ein Dach, das zum Glück nicht besonders steil war. Ein
    weiterer Giebel befand sich etwa drei Meter über ihm.
    Aus seinem Rucksack nahm er ein dickes Seil, an dessen
    Ende ein dreifacher Stahlhaken befestigt war. Mehrmals
    versuchte er, den Haken so emporzuschleudern, dass er
    sich dort oben verfing und einen sicheren Halt bot. Das
    allein dauerte fast zehn Minuten. Und es bereitete An-
    waldt Mühe, auf das benachbarte Dach zu klettern. Als er
    endlich dort angelangt war, zog er seine schmutzige Dril-
    lichhose und den langen Malerkittel aus, und unter seiner
    Verkleidung kamen Smoking und Lackschuhe zum Vor-
    schein. Er vergewisserte sich, dass er seine Zigaretten ein-gesteckt hatte, und blickte sich um. Schnell fand er, wo-
    nach er gesucht hatte: Unter einem dreieckigen Giebel
    befand sich ein leicht angerostetes winziges Lüftungsfen-
    ster. In dessen Rahmen hängte er den Haken seines Seils
    und ließ sich vorsichtig einige Meter hinunter. Bald da-
    rauf berührte er mit seinen Füßen das steinerne Geländer
    eines Balkons. Dort verharrte er erschöpft, er atmete
    schwer und war schweißüberströmt. Als er sich ein wenig
    erholt hatte, wagte er einen Blick durch die hell erleuchteten Fenster. Zwei verschiedene Zimmer führten auf den
    Balkon, und nach einem Moment erlosch in einem davon
    das Licht. Anwaldt spähte angestrengt in das noch er-
    leuchtete Fenster. Auf dem Fußboden wälzten sich zwei
    Paare. Eine halbe Minute verging, bevor Anwaldt deren
    komplizierte Verschlingungen begriff. Auf dem Sofa ge-
    genüber lümmelte ein nackter, maskierter Mann, und
    links und rechts von ihm kniete je ein Mädchen in Schul-
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    uniform. Anwaldt schlich zum zweiten Fenster hinüber,
    aus dem unheimliche Geräusche zu ihm drangen. Es war
    das Schwirren einer Peitsche: Undeutlich erkannte er
    zwei Mädchen in langen Stiefeln und schwarzen Unifor-
    men, die einen mageren jungen Mann geißelten, der mit
    Handschellen an den Kachelofen gekettet war. Der Mann
    schrie jedes Mal laut auf, wenn die eisernen Enden der
    Peitschenschnüre auf seinen Leib trafen, der sicherlich
    bereits mit bläulichen Striemen übersät war.
    Beide Fenster, denen Duftschwaden von Räucherwerk
    entströmten, waren weit geöffnet. Im Inneren konnte
    man die mehr oder weniger überzeugenden Lustschreie
    mehrerer Frauen hören. Anwaldt trat durch die Balkon-
    tür in das erste Zimmer. Wie er richtig angenommen hat-
    te, nahm niemand Notiz von ihm. Mit umso größerer
    Aufmerksamkeit beobachtete er das Geschehen um ihn
    herum. Ohne Mühe konnte er das fliehende Kinn von
    Maass und den Pigmentfleck auf der Hand einer der
    »Gymnasiastinnen« ausmachen. Er verließ das Zimmer
    und schloss sachte die Tür hinter sich. In die Wände des
    langen Korridors waren einige Nischen eingelassen, in
    denen schlanke Marmorstelen standen. Er folgte seinem
    Instinkt, streifte Smoking und Hemd ab und hängte bei-
    des über eine der kleinen Säulen. Von unten drangen die
    sanften Klänge eines Streicherensembles zu ihm – er er-
    kannte Haydns Kaiserquartett.
    Anwaldt ging die Treppe hinunter, wo drei Doppeltü-
    ren weit offen standen. Man hatte die gläsernen Trenn-
    wände auseinander geschoben und so aus drei großen
    Zimmern einen Saal von etwa dreißig Metern Länge ge-
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    schaffen. Auf der ganzen Fläche verteilten sich kleine hölzerne Tische, auf denen sich Obstschalen, langstielige
    Gläser und Eiskübel mit Flaschen befanden. Zwischen
    den Tischchen zählte er wohl zwanzig kleine Sofas und
    Chaiselongues, auf denen sich nackte Körper wie in Zeit-
    lupe bewegten. Der Baron dirigierte das Quartett mit ei-
    nem ganz besonderen Taktstock: ein menschlicher
    Schienbeinknochen. Sein Diener mit den sanften Augen
    war damit beschäftigt, großzügig Wein in die hohen Glä-
    ser nachzuschenken. Er trug lediglich einen indianischen
    Lendenschurz, der nur knapp seine Genitalien bedeckte,
    unterbrach dann seine Tätigkeit kurz, um sich mit großer
    Anmut zwischen den Gästen hindurchzuschlängeln und
    Rosenblätter über ihnen auszustreuen. Seine Aufgabe war
    es offenbar, dafür zu sorgen, dass jeder Gast zufrieden
    war. Deshalb wunderte er sich auch sichtlich, als er

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