Tod in Breslau
blind vor-
wärts. Er scheuchte unzählige Ratten auf, über sein Ge-
sicht legten sich ganze Schleier von Spinnweben. Anwaldt
170
hatte sein Zeitgefühl verloren, eine bleierne Müdigkeit
hatte ihn erfasst. Erst als er einen schwachen Licht-
schimmer in der Ferne ausmachte, konnte er seine letzten
Kräfte aufbringen. Es war der Schein einer Straßenlater-
ne, der durch ein völlig verstaubtes Fenster drang, das
Anwaldt nur mit Mühe erreichte. Die kleine Luke ließ
sich öffnen, und nach einigen vergeblichen Versuchen
gelang es ihm, sich nach draußen zu zwängen, wobei er
sich die Haut an den Rippen aufschrammte. Dann ver-
suchte er sich zu orientieren. Eine dichte Hecke trennte
ihn von Bürgersteig und Straße, dahinter konnte er dann
und wann die Schritte einiger Passanten hören. Er legte
sich auf den schmalen Rasenstreifen und atmete schwer.
Am liebsten wäre er gleich hier liegen geblieben, um ein
paar Stunden abzuwarten. Doch dann erspähte er ein idea-
les Versteck. Das Balkongeländer der Parterrewohnung
war mit wildem Wein überwuchert, dessen Ranken bis
zur Erde herabhingen. Hinter diesen Vorhang aus Blät-
tern zog sich Anwaldt mit letzter Kraft, bevor er fühlte,
wie er das Bewusstsein verlor.
Die Feuchtigkeit der Erde und die Stille ringsum ließen
ihn wieder zu sich kommen. Anwaldt stand ächzend auf
und schlich sich verstohlen im Schatten der Bäume ent-
lang der Oderpromenade zu seinem Wagen, den er vor
der Technischen Hochschule geparkt hatte. Er konnte
kaum fahren. Der ganze Körper schmerzte, und sein Ge-
sicht war blutüberströmt. Als er die Treppe zu seiner
Wohnung hinaufstieg, musste er sich am Geländer fest-
klammern, um nicht zu stürzen. Er verzichtete darauf, in
der Küche Licht zu machen, er wollte heute auf keinen
171
Fall auch nur einer einzigen Kakerlake begegnen. Nach-
dem er ein Glas Wasser hinuntergestürzt hatte, riss er
sich die ruinierten Smokinghosen vom Leib, öffnete das
Fenster und ließ sich schwer auf sein zerwühltes Bettzeug
fallen.
Breslau, 10. Juli 1934.
Neun Uhr morgens
Als Anwaldt aufwachte, konnte er kaum seinen Kopf vom
Kissen heben, da sich das geronnene Blut fest mit dem
Bezug verbunden hatte. Es kostete ihn große Anstren-
gung, sich aufzusetzen. Von seinem Kopf standen ver-
klebte Haarbüschel ab, der ganze Oberkörper war mit
Hautabschürfungen und Blutergüssen übersät, das Fuß-
gelenk schmerzte und der geschwollene Knöchel hatte in-
zwischen eine violette Farbe angenommen. Auf einem
Bein hüpfte er zum Telefon und wählte Baron von der
Maltens Nummer.
Es dauerte nur eine Viertelstunde, bis Doktor Lanz-
mann, der Hausarzt des Barons, bei Anwaldt war. Und
nach weiteren fünfzehn Minuten befanden sich beide in
der Residenz der von der Maltens. Vier Stunden später,
ausgeschlafen, mit einem Verband um den Kopf und Jod-
flecken am ganzen Körper, den verstauchten Fuß mit ei-
nigen Bambusstangen provisorisch geschient, schilderte
Anwaldt seinem Auftraggeber den Hergang des Festes
vom Vortag. Dazu rauchte er eine exquisite, lange »Ah-
nuri Shu«. Als sich der Baron nach dem Bericht in sein
172
Arbeitszimmer zurückzog, telefonierte Anwaldt mit dem
Polizeipräsidium und bat Kurt Smolorz, ihm bis sechs
Uhr abends alle Unterlagen über Baron von Köpperlingk
zusammenzustellen. Der Nächste, den er anrief, war Pro-
fessor Andreae. Er verabredete sich mit ihm zu einer Un-
terredung.
Von der Maltens Chauffeur half Anwaldt die Treppe
hinunter ins Auto. Auf ihrem Weg durch die Stadt er-
kundigte sich Anwaldt interessiert nach fast jedem Ge-
bäude und jeder Straße, durch die sie fuhren, und der
Chauffeur antwortete geduldig:
»letzt sind wir in der Hohenzollernstraße … links se-
hen Sie den Wasserturm … rechts die St.-Johannes-
Kirche … Ja, die finde ich auch sehr schön. Sie ist erst vor kurzem gebaut worden … Hier ist das Rondell. Der
Reichspräsidentenplatz. Wir sind immer noch auf der
Hohenzollernstraße … So, und jetzt biegen wir in die
Gabitzstraße ein. Kennen Sie die Gegend schon ein we-
nig? Nur noch unter dem Viadukt hindurch, dann sind
wir schon in der Zietenstraße …«
Es war eine angenehme Fahrt in dem kühlen Auto.
Wie schön Breslau war! Leider hatte Anwaldts Adler seit
dem Morgen in der prallen Sonne gestanden, und es
herrschte darin eine wahre Glut. Sobald er sich hinter das Steuer gesetzt hatte, brach ihm der Schweiß aus und
durchnässte Hemd und
Weitere Kostenlose Bücher