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Tod in den Anden

Tod in den Anden

Titel: Tod in den Anden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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nachgab. Sie bedauerte es nicht, im Gegenteil. Es wäre zu schade gewesen, wenn man das versäumt hätte.
    »Und ob es das gewesen wäre«, sagte Albert, während er zu der von feinen Rissen durchzogenen Glasscheibe des Fensters hinauswies. »Ist das nicht grandios?«
    Die Sonne ging gerade unter, und am Horizont erschien der prachtvolle Schweif eines Pfaus. Eine weite dunkelgrüne Hochebene ohne Bäume, ohne Häuser, ohne Mensch noch Tier breitete sich zu ihrer Linken aus, belebt von schimmernden Reflexen, als befänden sich zwischen den Büscheln gelblichen Strohs Bäche oder kleine Seen. Zu ihrer Rechten dagegen ragte senkrecht eine abweisende Landschaft aus steilen Felsen, Abgründen und Schluchten auf.
    »So muß Tibet sein«, murmelte la petite Michèle.
    »Ich versichere dir, daß das hier interessanter ist als Tibet«, antwortete Albert. »Ich hab’s dir ja gesagt: Peru ist viel Peru auf einmal!«
    Vor dem alten Bus herrschte schon Dunkelheit, und es war allmählich kalt geworden. Ein paar Sterne schimmerten am indigoblauen Himmel.
    »Brrr . . .« Michèle zog die Schultern hoch. »Jetzt verstehe ich, warum alle so dick angezogen sind. Wie sich das Klima in den Anden ändert. Morgens erstickende Hitze und abends eisige Kälte.«
    »Diese Reise wird unser Leben verändern, du wirst schon sehen«, sagte Albert.
    Jemand hatte ein Radio angedreht, und nach einer Reihe metallischer Stotterlaute erklang plötzlich eine traurige, monotone Musik.
    »Charangos und Quena-Flöten«, sagte Albert mit Kennermiene. »In Cusco kaufen wir eine quena . Und wir werden lernen, huaynos zu tanzen.«
    »Wir geben dann eine Galavorstellung in der Schule.«
    La petite Michèle ließ ihrer Phantasie freien Lauf. »Die peruanische Nacht! Ganz Cognac wird erscheinen.«
    »Wenn du ein bißchen schlafen willst, dann nimm mich als Kopfkissen.«
    »Noch nie hab ich dich so froh gesehen«, sagte sie und schaute ihn lächelnd an.
    »Zwei Jahre habe ich davon geträumt«, nickte er. »So lange habe ich gespart und über die Inkas und Peru gelesen. Und mir das hier vorgestellt.«
    »Und du bist nicht enttäuscht«, sagte seine Gefährtin schmunzelnd. »Na ja, ich auch nicht. Gut, daß du mich ermuntert hast, mitzukommen. Ich glaube, das Glukosemittel hat seine Wirkung getan. Die Höhe macht mir nicht mehr so viel aus, ich kann besser atmen.«
    Einen Augenblick später hörte Albert sie gähnen. Er legte ihr den Arm um die Schultern, damit sie ihren Kopf darauf stützen konnte. Nach einer Weile schlief la petite Michèle, trotz der schlingernden und hüpfenden Bewegungen des Fahrzeugs. Er wußte, daß er kein Auge zutun würde. Er war zu aufgeregt, zu sehr darauf bedacht, alles im Gedächtnis zu bewahren, um sich später daran erinnern zu können, um es in das Tagebuch zu schreiben, das er jeden Abend vollkritzelte, seit sie am Bahnhof von Cognac in den Zug gestiegen waren, um später alles, in allen Einzelheiten und mit der einen oder anderen Übertreibung, den copains zu erzählen. Seinen Schülern in der Schule würde er eineStunde mit Dias geben, den Projektor könnte er von Michèles Vater leihen. Peru! Da war es: riesig, geheimnisvoll, graugrün, bettelarm, unendlich reich, uralt, verschlossen. Es bestand aus dieser Mondlandschaft und aus den kupferfarbenen, gleichmütigen Gesichtern der Frauen und Männer ringsum. Undurchdringlich, wahrhaftig. Ganz anders als die Gesichter, die sie in Lima gesehen hatten, Gesichter von Weißen, Schwarzen, Mestizen, mit denen sie sich recht und schlecht verständigen konnten. Aber von den Menschen des Hochlands trennte sie etwas Unüberwindliches. Mehrere Male hatte er versucht, in seinem schlechten Spanisch mit seinen Nachbarn zu sprechen, ohne den geringsten Erfolg. ›Uns trennt nicht die Rasse, sondern die Kultur‹, erinnerte ihn la petite Michèle. Sie waren die wahren Nachkommen der Inkas, nicht die Leute in Lima; ihre Vorfahren hatten die gigantischen Steine des Festungs-Heiligtums zu den Adlerhorsten des Machu Picchu hinaufgeschleppt, den er und seine Freundin in drei Tagen besichtigen würden.
    Es war dunkel, und er spürte, trotz seines Willens, wach zu bleiben, wie ein sanfter Schwindel ihn erfaßte. ›Wenn ich einschlafe, kriege ich einen steifen Hals‹, dachte er. Sie saßen in der dritten Sitzreihe rechts, und während Albert in den Schlaf hinüberglitt, hörte er, wie der Fahrer zu pfeifen begann. Dann schien ihm, als schwämme er in kaltem Wasser. Sternschnuppen fielen in der riesigen

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