Tod in den Wolken
Frage, ob ich Arzt sei», begann Dr. Bryant. «Als ich es bejahte, teilte er mir mit, dass es einem der Passagiere nicht gut gehe, woraufhin ich ihm folgte. Die betreffende Dame saß zusammengesunken in ihrem Sessel und musste, wie ich feststellte, schon geraume Zeit tot gewesen sein.»
«Wie lange schon, Dr. Bryant?»
«Bestimmt eine halbe Stunde. Zwischen einer halben und einer Stunde, schätze ich.»
«Sie bemerkten eine winzige Punktur an der Seite des Halses, nicht wahr?»
«Ja.»
«Ich danke Ihnen… Dr. James Whistler.»
Dr. Whistler, der Polizeiarzt des Distrikts, ein hageres Männchen, äußerte sich folgendermaßen:
«Dienstag, den 18. September, wurde ich kurz nach drei Uhr zum Flugplatz Croydon gerufen, wo man mir auf der ‹Prometheus› die Leiche einer Frau mittleren Alters zeigte. Der Tod hatte sie, so möchte ich behaupten, ungefähr eine Stunde zuvor ereilt. Ich gewahrte an der Seite des Halses ein rundes Pünktchen, direkt auf der Halsschlagader, das sowohl ein Wespenstich als auch der mir vorgelegte Dorn verursacht haben konnte. Später nahm ich im Leichenschauhaus eine eingehende Untersuchung vor und gelangte zu der Ansicht, dass der Tod durch Einführen eines starken Giftes in die Blutbahn bewirkt wurde. Das Gift rief eine sofortige Lähmung des Herzens hervor, das heißt, der Tod trat auf der Stelle ein.»
«Sind Sie imstande, uns das Gift zu nennen?»
«Es war ein in meiner Praxis noch nicht vorgekommenes Gift.»
Die Reporter, aufmerksam lauschend, kritzelten: «Gift, das dem Polizeiarzt trotz langjähriger Praxis unbekannt ist.»
«Danke», sagte der Vorsitzende. «Bitte, Mr Henry Winterspoon.»
Es meldete sich ein hoch gewachsener, verträumt dreinschauender Mann, den man wohl für gutmütig, doch kaum für intelligent gehalten hätte, und das Publikum staunte nicht wenig, als es erfuhr, dass Mr Winterspoon der Chefanalytiker der Regierung und eine weltberühmte Autorität auf dem Gebiet seltener Gifte war.
Der Vorsitzende hob den verhängnisvollen Dorn hoch und fragte den Zeugen, ob er ihn erkenne.
«Gewiss. Er wurde mir zur Analyse eingesandt.»
«Und das Ergebnis der Analyse?»
«Meiner Ansicht nach ist der Dorn ursprünglich mit einer Lösung von Curare, dem Pfeilgift gewisser wilder Stämme, getränkt worden.»
Hurtig eilten die Stifte der Pressevertreter über das Papier, während der Vorsitzende die nächste Frage stellte:
«Wenn ich Sie recht verstehe, hat also das Pfeilgift Curare den Tod verursacht?»
«Keineswegs», widersprach Mr Winterspoon. «Von dem ursprünglichen Präparat fand ich sozusagen nur noch einen Hauch. Wie meine Analyse ergab, wurde der Dorn kürzlich in das Gift von Dispholidus Typus, einer sehr gefährlichen Baumschlange, getaucht. Sie ist in Afrika heimisch und verfügt über das allerstärkste Gift. Seine Wirkung auf Menschen ist nicht bekannt; doch bekommen Sie eine Vorstellung von der Stärke ihres Giftes, wenn ich Ihnen sage, dass man es einer Hyäne spritzte und das Tier starb, noch ehe die Nadel wieder herausgezogen werden konnte. Das Gift verursacht eine akute Blutung unter der Haut und paralysiert das Herz.»
«Haben Sie je gehört, dass es in einem Fall vorsätzlicher Vergiftung angewandt wurde?»
«Niemals.»
«Ich danke Ihnen, Mr Winterspoon.»
Sergeant Wilson berichtete über die Entdeckung des von Fingerspuren freien Blasrohrs. Man hatte mit diesem und dem Dorn dann Experimente angestellt, wobei letzterer bis zu zehn Meter weit geflogen war.
«Mr Hercule Poirot.»
Der kleine Ausländer zeigte sich sehr zurückhaltend, gab an, dass er nichts Auffälliges bemerkt, allerdings den Dorn entdeckt habe, und zwar an einer Stelle, wohin er sehr wohl vom Nacken der Toten heruntergefallen sein könnte.
«Gräfin Horbury», rief der Vorsitzende.
Und die Reporter kritzelten: «Gattin eines englischen Aristokraten als Zeugin in dem Flugzeug-Mordfall.» Jene, die für Frauenzeitungen schrieben, fügten noch hinzu: «Gräfin Horbury, die vor ihrer Heirat Cicely Bland hieß, trug ein elegantes schwarzes Kleid, einen kleinen Hut und einen Fuchspelz.»
Dem Publikum gefiel die schicke, anmutige junge Frau, wenngleich ihr Zeugnis äußerst dürftig war: Sie hatte nichts bemerkt und die Verstorbene nie zuvor gesehen.
Venetia Kerr, die nach ihr aufgerufen wurde, fand weniger Beifall. Trotzdem schrieben einige unermüdliche Neuigkeitslieferanten: «Lord Cottesmores Tochter, in einfachem, gut geschnittenem Mantel, gleichfarbigem Rock und
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