Tod in den Wolken
auch die Länder wilder Völker besucht?»
«Ja.»
«Haben Sie je Menschen getroffen, die Schlangengift für ihre Pfeile benutzen?»
«Nie.»
Die Aussage des Sohnes war eine Wiederholung derjenigen seines Vaters. Nur erwähnte er dann noch die Wespe, die ihn belästigt und die er deshalb getötet habe.
Weitere Zeugen gab es nicht, und so räusperte sich der Vorsitzende und wandte sich an die Geschworenen.
«Dies ist bestimmt der seltsamste und unglaublichste Fall, mit dem sich je eine Voruntersuchung zu befassen hatte. Eine Frau wurde hoch oben in der Luft, in einem kleinen, fest verschlossenen Raum, ermordet, denn Selbstmord oder Unfall scheiden aus. Notwendigerweise befindet sich der Mörder oder die Mörderin unter den Zeugen, die wir im Laufe des heutigen Vormittags gehört haben, mit anderen Worten, einer von ihnen hat in der frechsten, abscheulichsten Art gelogen.
Das Verbrechen wurde mit einer unvergleichlichen Verwegenheit begangen. In Anwesenheit von zehn oder – wenn wir die Stewards mitrechnen – von zwölf Zeugen setzte der Mörder ein Blasrohr an die Lippen und schickte den todbringenden Dorn durch die Luft. Und nichtsdestoweniger hat niemand die Tat beobachtet.
Angesichts des gänzlichen Fehlens von Belastungsmaterial, das irgendeine bestimmte Person beschuldigen würde, kann ich die Geschworenen nur ersuchen, eine Mordanklage gegen unbekannt auszusprechen. Jeder Anwesende hat die Bekanntschaft mit der Verstorbenen geleugnet. Nun, jetzt liegt es bei der Polizei herauszufinden, wie und wo eine Verbindung zu ihr bestand. Ich bitte Sie, nunmehr über das Verdikt zu beratschlagen.»
Einer der Geschworenen, ein vierschrötiger Mann mit kleinen, misstrauisch funkelnden Augen, wandte sich an den Vorsitzenden.
«Darf ich eine Frage stellen, Sir?»
«Gewiss.»
«Wer hatte den Platz inne, hinter dem das Blasrohr entdeckt wurde?»
Der Vorsitzende wollte die Akten zurate ziehen, als Sergeant Wilson an ihn herantrat:
«Sir, auf dem betreffenden Platz saß Monsieur Hercule Poirot, ein sehr bekannter und geachteter Privatdetektiv, der verschiedentlich mit Scotland Yard zusammengearbeitet hat.»
Hierauf suchten die Blicke des Vierschrötigen Poirots Gesicht und blieben mit einem Ausdruck, der alles andere als Zufriedenheit verriet, an dem kunstvollen Schnurrbart des Belgiers haften. Ausländern, sagten die misstrauischen Äuglein, darf man nicht trauen, selbst wenn sie mit der Polizei ein Herz und eine Seele sind!
Und der Mund sprach laut:
«War es nicht jener Monsieur Poirot, der den Dorn entdeckte und aufhob?»
«Ja.»
Die Geschworenen zogen sich zurück, um schon nach fünf Minuten wiederzukehren, und ihr Obmann händigte dem Vorsitzenden ein Blatt Papier aus.
«Wie…?» Befremdet blickte dieser auf das Dokument, und eine tiefe Furche bildete sich zwischen seinen Brauen. «Unsinn! Diesen Spruch kann ich nicht als gültig akzeptieren.»
Etliche Minuten später hielt er ein neues Verdikt in Händen.
«Wir sind zu der Ansicht gelangt», hieß es darin, «dass die Verstorbene ihren Tod durch Gift fand und dass die Beweise nicht ausreichen, um festzustellen, wer ihr das Gift verabfolgte.»
5
Als Jane Grey die Stufen des Gerichtsgebäudes hinabschritt, gesellte sich Norman Gale zu ihr.
«Für mein Leben gern möchte ich wissen, was auf dem Papier stand, dessen Annahme der Vorsitzende verweigert hat», gestand er.
«Das kann ich Ihnen, glaube ich, sagen», erklang hinter ihnen eine Stimme.
Das junge Paar schnellte herum und blickte in die listigen Augen Hercule Poirots.
«Es war ein Spruch, der mich des vorsätzlichen Mordes zieh», erklärte der Detektiv absichtlich gekünstelt.
«Oh… nein, nein!», wehrte Jane.
Doch Poirot nickte vergnügt.
«.Mais oui, Mademoiselle. Gerade eben hörte ich einen Mann aus dem Publikum zu seinem Freund sagen: ‹Verlass dich darauf – jener kleine Ausländer hat sie auf dem Gewissen!› Und die Geschworenen dachten dasselbe.»
Jane Grey schwankte, ob sie ihr Beileid bezeugen oder lachen sollte. Sie entschied sich für letzteres, und Poirot stimmte herzlich in ihr Lachen ein. «Doch jetzt muss ich mich an die Arbeit machen und mich von dem Verdacht reinigen», erklärte er und trippelte nach einer liebenswürdigen Verbeugung davon.
«Ein komischer Kauz!», meinte der Zahnarzt, während er und das junge Mädchen dem sich eilig Entfernenden nachsahen. «Nennt sich Detektiv. Möchte bloß wissen, wie der etwas auskundschaften will. Jeder Verbrecher
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