Tod in den Wolken
Aber ich? Ich sah immer gerade den Mittelgang entlang. Ich wollte sagen… ich würde…» Sie brach ab, während ihr eine jähe Röte über die Wangen huschte, denn sie entsann sich, dass ihre Augen die meiste Zeit durch einen grünblauen Pullover gebannt gewesen waren und dass ihr Geist, durchaus nicht aufnahmefähig für die Geschehnisse um sie herum, sich fast ausschließlich mit der Persönlichkeit des Mannes in diesem grünblauen Pullover beschäftigt hatte.
Norman Gale blickte auf. Warum errötet sie?, dachte er. Ah, sie ist entzückend… Ich werde sie heiraten… unbedingt. Aber immer hübsch langsam. Einen Schritt nach dem anderen. Vorläufig dient mir dieser Mord als gute Entschuldigung für ein häufigeres Zusammensein… Außerdem wäre es, glaube ich, wirklich gut, irgendwas zu tun… Jener Kerl von Reporter und seine verdammte Publicity…
«Jane», ergriff er das Wort, «wir wollen gemeinsam überlegen. Wer hat sie getötet? Gehen wir mal sämtliche Leute durch. Die Stewards?»
«Nein.»
«Auch meine Ansicht. Die Damen uns gegenüber?»
«Lady Horbury ist nicht die Frau, die Leute umbringen würde. Und die andere ist zu vornehm, um eine alte Französin zu töten.»
«Dann der kleine Schnauzbärtige. Aber da die Geschworenen in ihm das schwarze Schaf wittern, dürfte er bestimmt schneeweiß sein. Der Doktor? Auch das ist unwahrscheinlich.»
«Wenn er jemanden beseitigen wollte, hätte er irgendetwas nicht Aufspürbares benutzen können, und keiner würde je dahinter gekommen sein.»
«Ja…», meinte Norman nachdenklich, «diese unaufspürbaren, geschmacklosen, geruchlosen Gifte sind sehr recht zweckdienlich, indes bezweifle ich ein bisschen, ob es sie wirklich gibt. Wie denken Sie über den Mann, der sich als Besitzer eines Blasrohrs entpuppte?»
«Er ist verdächtig. Andererseits scheint er ein netter Kerl zu sein, und dass er aus freien Stücken erklärte, er besitze so ein Ding, entkräftet den Verdacht.»
«Und Jameson… nein, wie heißt er doch gleich? Ah… James Ryder!»
«Ja, er könnte es sein.»
«Und die beiden Franzosen?»
«Das ist freilich am wahrscheinlichsten. Sie sind bis in die fernsten Erdenwinkel gekommen und mögen ein Motiv haben, von dem keiner etwas ahnt. Der Jüngere sah überdies sehr unglücklich und niedergeschlagen aus.» Miss Grey nickte versonnen.
«Wenn Sie einen Mord begangen hätten, sähen Sie auch betrübt aus, Jane.»
Das junge Mädchen überhörte diesen Satz. «Aber ich finde die beiden recht sympathisch, vor allem den alten Herrn, und daher wünsche und hoffe ich, dass sie unschuldig sind.»
«Allem Anschein nach kommen wir mit unseren Überlegungen nicht sehr weit.»
Jane Grey begann langsam ihre Handschuhe anzuziehen, und während sie den linken zuknöpfte, meinte sie:
«Wie sollen wir denn auch weiterkommen, wenn wir über die alte Frau, die ermordet wurde, gar nichts wissen? Nicht, wer ihre Feinde waren, nicht wer ihr Geld erbt und dergleichen mehr.»
«Dann halten Sie unser Nachdenken für nichtige Spekulation?»
«Ist es das etwa nicht?»
«Nicht ganz.» Gale zögerte und fuhr dann langsam fort: «Ich habe das Gefühl, es könnte nützlich sein…»
Fragend sah Jane ihn an.
«Mord geht nicht allein das Opfer und den Täter etwas an», erläuterte der Zahnarzt. «Er betrifft auch die Unschuldigen. Sie und ich, wir sind unschuldig, aber der Schatten des Mordes hat uns gestreift. Und wir wissen nicht, welchen Einfluss jener Schatten auf unser Leben haben wird.»
«Still», stieß Jane hervor, und obwohl sie einen gesunden Menschenverstand besaß, zitterte sie plötzlich. «Sie machen mir Angst.»
«Ich habe selbst ein wenig Angst», entgegnete Norman Gale.
6
Hercule Poirot suchte seinen Freund Inspektor Japp auf, der ihn mit einem dröhnenden Lachen begrüßte.
«Hallo, Sie Unglücksrabe, viel hat nicht gefehlt, und Sie wären in eine Gefängniszelle gesperrt worden!»
«Ich fürchte, ein derartiges Missgeschick würde mir beruflich ziemlich geschadet haben», erwiderte der kleine Belgier ernst.
«Ja, ja, bisweilen entpuppen sich Detektive als Schwerverbrecher – in Romanen.» Jetzt machte Japp eine Handbewegung in Richtung eines brünetten Mannes, auf dessen Gesicht eine leise Wehmut zu liegen schien. «Darf ich Ihnen Monsieur Fournier von der Sûreté vorstellen? Er ist herübergekommen, um diesen Fall gemeinsam mit uns zu bearbeiten.»
«Ich glaube, ich hatte bereits vor Jahren das Vergnügen, Ihnen zu begegnen,
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