Tod in den Wolken
sein?»
«Mein Bester, Irrtümer unterlaufen auch mir bisweilen», sagte der Franzose tröstend. «Und es besteht die Möglichkeit, dass auch Ihnen einer unterlaufen ist. Dann bleibt einem nichts anderes übrig, als seinen Stolz zu überwinden und seine Ideen einer Revision zu unterziehen.»
«Gewiss, gewiss. Die verspätete Wirkung des Giftes ist tatsächlich befremdend – fast möchte man behaupten, unmöglich! Aber wo Gift im Spiel ist, ereignet sich das Unmögliche. Man muss mit Idiosynkrasien rechnen…»
Poirots Stimme erstarb.
«Gegenwärtig wäre es wohl unklug, Anne Morisot aus ihrer vermeintlichen Sicherheit zu reißen», führte Fournier aus. «Sie ahnt nicht, dass Sie sie erkannt haben, und da wir wissen, in welchem Hotel sie wohnt, und außerdem durch Thibault, der die Erledigung der gesetzlichen Formalitäten verzögern kann, eine Verbindung mit ihr aufrechtzuerhalten vermögen, wollen wir sie vorläufig nicht belästigen. Wir müssen auch noch den Beweis erbringen, dass Anne Morisot Schlangengift in ihrem Besitz hatte. Ferner ist da noch dieser Amerikaner, der das Blasrohr kaufte und den Angestellten der Airlines bestach. Vielleicht entpuppt er sich als der Gatte Richards. Wissen wir denn, ob er sich tatsächlich in Kanada aufhält?» – Er schwieg nachdenklich und sah zu Boden…
«Sehr richtig – der Gatte… Ja, der Gatte. Ah, warten Sie, warten Sie, Fournier!» Poirot presste beide Hände gegen die Schläfen. «So geht es nicht», murmelte er. «Ich gebrauche die kleinen grauen Zellen nicht in einer ordnungsgemäßen, methodischen Weise. Nein, ich ziehe sprunghaft Folgerungen. Meine Gedanken bewegen sich vielleicht in einer von anderen gewollten Richtung. Doch halt! Auch das stimmt nicht. Denn wenn meine ursprüngliche Idee…» Der Rest des Satzes war ein unverständliches Gemurmel.
«Verzeihung, Monsieur Poirot», begann Jane. Aber der Kleine beachtete sie nicht. Ein paar Minuten hielt er noch geistesabwesend seine Hände gegen die Schläfen, dann setzte er sich plötzlich kerzengerade hin und rückte zwei Gabeln und ein Salzfässchen zurecht, die seinen Sinn für Symmetrie beleidigten.
«Wir wollen gemeinsam überlegen», sagte er. «Anne Morisot ist entweder schuldig oder unschuldig. Wenn sie unschuldig ist, warum hat sie dann gelogen? Warum hat sie verschwiegen, dass sie Zofe bei Lady Horbury war?»
«Ja, warum wohl?», fragte auch Fournier.
«Mithin nehmen wir an, dass Anne Morisot schuldig ist, weil sie gelogen hat. Doch warten Sie! Wenn nun meine erste Vermutung stimmte, würde sie dann in keinem Widerspruch stehen zu Annes Schuld oder Lüge? Ja – Ja… es ginge, unter einer Voraussetzung. Doch in diesem Fall – ich meine, wenn die Voraussetzung zutrifft – sollte Anne Morisot vielleicht überhaupt nicht in dem Flugzeug gewesen sein?»
Die beiden anderen hörten ihm mit höflichem, wenn auch ziemlich oberflächlichem Interesse zu. Jetzt begreife ich, was mein englischer Kollege Japp meint, dachte Fournier. Er schafft Schwierigkeiten, der gute, alte Poirot; er setzt alles daran, damit eine nunmehr einfache Sache verwickelt klingt. Er kann nicht eine glatte, gerade Lösung hinnehmen, ohne sie seinen vorherigen Ideen anzupassen. Und Jane Grey dachte: Ich verstehe nicht ein bisschen von seinem Gerede! Warum sollte Anne Morisot nicht in dem Flugzeug sein? Sie musste sich doch nach Lady Horburys Anordnungen richten… Mir scheint, er ist ein Aufschneider…
Plötzlich zog Hercule Poirot mit einem Zischen den Atem ein.
«Ja, es besteht eine Möglichkeit, und es dürfte nicht schwer sein, sie festzustellen», sagte er, indem er sich erhob.
«Wohin, mein Lieber?», erkundigte sich Fournier.
«Wieder zum Telefon.»
«Noch einmal ein Gespräch um den halben Erdball?»
«Nein, ein Gespräch mit London.»
«Scotland Yard?»
«Nein, mit Lord Horburys Haus am Grosvenor Square. Wenn ich nur das Glück habe, Lady Horbury daheim anzutreffen!»
«Seien Sie vorsichtig», warnte Fournier. «Wenn Anne Morisot auf irgendwelchen Umwegen erfährt, dass wir ihretwegen Erkundigungen eingezogen haben, so kann das unserer Arbeit schaden.»
«Keine Angst. Ich werde verschwiegen sein», versicherte Poirot. «Nur eine einzige Frage von ganz harmloser Art werde ich stellen.» Er lächelte. «Kommen Sie mit mir, damit Sie sie mit eigenen Ohren hören.»
«Nein, nein.»
«Bitte. Ich bestehe darauf.»
Die beiden Männer gingen zum Telefon, während Jane es sich in der Halle bequem machte. Es
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