Tod in den Wolken
Mörder kaum behilflich sein konnte, da sie weder über das Leben ihrer Mutter noch über deren geschäftliche Verbindungen unterrichtet war. Nachdem sie das Hotel genannt hatte, in dem sie wohnte, nahmen Fournier und Hercule Poirot Abschied von ihr.
«Sie sind enttäuscht, mein Bester», sagte der Franzose. «Hatten Sie sich eine andere Vorstellung von der Tochter gemacht? Argwöhnten Sie, sie sei eine Betrügerin? Oder halten Sie etwa Madame Richards noch jetzt für eine Betrügerin?»
Poirot schüttelte in einer seltsam mutlosen Art den Kopf.
«Nein, dafür halte ich sie nicht. Die Beweise ihrer Identität sind überzeugend… Trotzdem – ich werde das Gefühl nicht los, als hätte ich sie schon mal gesehen. Oder erinnert sie mich nur an irgendwen?»
«Eine Ähnlichkeit mit der Toten?», mutmaßte Fournier. «Doch wohl kaum.»
«Nein… das ist es nicht. Mein Gott, wie kann mich mein Gedächtnis nur so schmählich im Stich lassen! Ich bin sicher, dass ihr Gesicht mich an jemanden erinnert.»
Fournier betrachtete ihn forschend von der Seite.
«Die fehlende Tochter hat Ihnen die ganze Zeit schon zu schaffen gemacht, wie?»
«Natürlich», sagte Poirot, die Brauen ein wenig emporziehend. «Können Sie etwa leugnen, dass dieser jungen Frau aus Giselles Tod ungeheure Vorteile erwachsen?»
Hercule Poirot schritt ein Weilchen schweigend neben Fournier her, ganz in seine eigenen Gedanken versunken. Endlich sagte er:
«Mein Freund, in die Hände dieser Frau geht ein ungeheures Vermögen über. Wundert es Sie, dass ich sie da gleich zu Beginn in den Kreis der Verdächtigen einbezogen habe? In dem Flugzeug befanden sich drei Frauen. Eine von ihnen, Miss Kerr, entstammt einer hoch angesehenen Familie. Aber die beiden anderen? Seit Elise Grandier die Vermutung äußerte, der Vater von Madame Giselles Kind sei Engländer, beherrschte mich der Gedanke, dass eine der beiden anderen Frauen vielleicht die Tochter sein könnte. Das Alter stimmte ungefähr. Überdies war Lady Horbury ein Revuegirl mit ziemlich undurchsichtigem Vorleben, das sich einen Bühnennamen zugelegt hatte, und Miss Grey ist, wie ich gelegentlich aus ihrem eigenen Munde erfuhr, in einem Waisenhaus aufgewachsen.»
«Aha! Aus der Richtung weht der Wind!», rief der Franzose. «Inspektor würde Sie jetzt übererfinderisch schelten.»
«Ja, er wirft mir immer vor, dass ich die Dinge zu erschweren liebe. Doch er tut mir Unrecht. Ich gehe stets in der denkbar einfachsten Weise vor. Und niemals weigere ich mich, Tatsachen als solche anzuerkennen.»
«Aber Sie sind enttäuscht? Erwarten Sie mehr von dieser Anne Morisot?»
Sie betraten gerade Poirots Hotel, und auf dem Tischchen neben dem Empfangsschalter lag ein Gegenstand, der Fournier an eine vor zwei Stunden geäußerte Bemerkung des Belgiers erinnerte.
«Ich habe Ihnen noch nicht dafür gedankt, Monsieur Poirot, dass Sie mich auf den Schnitzer aufmerksam gemacht haben, den ich mir leistete», sagte er. «Es ist unverzeihlich, dass ich, nachdem mich die zwei Zigarettenspitzen Lady Horburys und die kurdischen Pfeifen der beiden Duponts stutzig machten, die Flöte Dr. Bryants vergaß. Allerdings hatte ich ihn nie ernstlich in Verdacht; er ist nicht der Mensch…»
Jäh brach er ab. Denn der Herr, der, die Hand auf den Flötenkasten gelegt, mit dem Empfangschef sprach, drehte sich um. Sein Blick fiel auf Poirot, und ein ernstes Lächeln des Wiedererkennens glitt über sein Gesicht.
Während sich Fournier taktvoll im Hintergrund hielt, ging Poirot auf den Mann zu.
«Dr. Bryant, Sie hier?»
«Ja.»
Eine Frau, die neben dem Arzt gestanden hatte, entfernte sich in Richtung Fahrstuhl, und Poirot warf ihr einen flüchtigen Blick nach.
«Können Ihre Patienten ein Weilchen ohne Sie auskommen, Monsieur le docteur?»
Dr. Bryant lächelte – jenes wehmütige Lächeln, dessen sich der kleine Belgier so gut entsann.
«Ich habe keine Patienten mehr.» Dann ging er zu einem kleinen Tisch hinüber. «Trinken Sie ein Glas Sherry mit mir, Monsieur Poirot?»
«Gern.»
Sie nahmen Platz, und der Doktor bestellte, woraufhin er in Stillschweigen versank, bis die Gläser vor ihnen standen.
«Nein, ich habe keine Patienten mehr. Ich habe aufgegeben.»
«Ein plötzlicher Entschluss?», fragte Poirot.
«Eigentlich nicht.» Wieder schwieg er einen Augenblick, um dann, sein Glas hebend, hinzuzufügen: «Es ist ein notwendiger Entschluss. Ich verzichte freiwillig, ehe man mir die Approbation entzieht. Für jeden kommt
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