Tod in der Walpurgisnacht
davongeflogen – leicht, eifrig und neugierig auf das Leben jenseits der Stadtgrenzen. Sie landete in einer weitaus offeneren Landschaft in einer anderen Art von Stadt, in der die Menschen nicht so einfach aufeinanderstießen. Eine alte Universitätsstadt mit über einhunderttausend Einwohnern. Sie kam an einen Ort, an dem niemand sie kannte, und das war großartiger, als sie je geahnt hatte.
Doch sie sagte sich selbst immer wieder, dass sie aus freien Stücken nach Oskarshamn zurückgekehrt war. Das musste erst mal reichen. Ein paar Kollegen bei der Arbeit hatten sie natürlich gefragt, ob sie Heimweh gehabt habe und ob sie deshalb zurückgekommen sei. Diese Frage hatte sie verneint, ohne unhöflich zu sein. Sie hatte nicht gesagt, dass sie Oskarshamn eigentlich verabscheute, aber dass sie mit der Stadt in Ermangelung anderer Möglichkeiten vorliebnahm. Die Erklärung war, dass das PJ hier einen guten Ruf hatte, sie bekam sofort einen Platz ohne Warteliste, wie es bei den beliebteren und größeren Stellen der Fall war.
Ach, ganz egal, jetzt war sie hier!
Die Wohnung in Lund hatte sie schnell und problemlos vermietet, hatte Kleider, Computer und Nähmaschine eingepackt und konnte mit einem Freund mitfahren, der ein Praktikum bei der Zeitung in Oskarshamn machen wollte.
In der ersten Nacht schlief sie bei Britta-Stina und Robert am Axel-Munthes-Stig in Norrtorn. Sie freuten sich, dass sie kam, und wahrscheinlich ebenso sehr, dass sie nicht vorhatte, ihr Haus zu beanspruchen. Von ihnen bekam sie ein Bett, das Robert auf dem Autodach festschnürte, und es war ein rechtes Abenteuer, bis sie es durch den Schneeregen in ihre Wohnung gebracht hatten.
Der Flohmarkt gegenüber erwies sich als Goldgrube, dort konnte sie ihre ganze Wohnung für wenig Geld ausstatten. Ein Tisch, vier verschiedene Küchenstühle, Teller, Besteck, Gläser, Töpfe und die Kommode, die alle in dem einzigen Zimmer standen. Robert hatte ihr geholfen, das nach Hause zu tragen, was sie nicht allein schaffte. Die Kommode war gelb gestrichen und an einigen Stellen abgestoßen, aber sie erhellte den Raum und sah richtig nett aus. Die Fenster mussten kahl bleiben, es lohnte sich nicht, Gardinen aufzuhängen. Sie war zufällige Touristin in ihrer eigenen Stadt, und so sollte es auch bleiben.
So war das. Plötzlich öffnete sich eine Tür.
Kapitel 4
K riminalkommissar Claes Claesson legte den Hörer auf, hob den Kopf und sah mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster. Ein paar Sekunden lang wurde es in seinem Innern ganz still. Die Magie der wechselnden Jahreszeiten, jedes Jahr gleich, aber immer eindrucksvoll. Wessen Werk war das? Wenn man das sah, konnte man direkt religiös werden.
Es war der erste Februar und noch dazu ein Dienstag, und die vielversprechenden und gleißenden Lichtstrahlen regten die Pupillen dazu an, sich zu schwarzen Stecknadelköpfen zusammenzuziehen.
Dann wandte er dem Fenster den Rücken zu und ging zur Treppe. Die Wanduhr im Aufenthaltsraum zeigte knapp zwanzig nach. Nina Persson vom Empfang hatte angerufen und ihm mitgeteilt, dass Yvonne Almgren da sei. Das war fast zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit, denn erst um halb zwei sollte er sich mit ihr treffen. Doch er hatte jetzt schon Zeit und musste sich nicht wichtigmachen, indem er sie warten ließ.
Er konnte verstehen, was sie umtrieb. Die arme Frau! Kinder sollten nicht verschwinden und auch nicht sterben. Yvonne Almgren hatte eines, aber sie wusste nicht, ob dieses einzige Kind lebte oder tot war. Wenigstens hatte sie zwei Enkelkinder, dachte er beschönigend.
Ihm war es recht spät im Leben glücklicherweise noch beschieden, dass er zwei Kinder bekommen hatte. Dieses Jahr würde die jüngste Tochter ein Jahr alt werden. Mit Schaudern dachte er, dass den Töchtern nichts, aber auch gar nichts zustoßen durfte.
Yvonne Almgrens Tochter war schon erwachsen gewesen, als sie verschwand, doch das machte die Sache nicht besser. Und Yvonnes Ehemann konnte einem natürlich genauso leidtun, aber er kam nur selten mit. Bengt hieß er, ein recht verschlossener Mann, zu dem Claesson noch keinen richtigen Kontakt hatte bekommen können.
Anfang Juni vergangenen Jahres war die Tochter von Yvonne und Bengt Almgren, Tina Rosenkvist, verschwunden. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Sie war damals zweiunddreißig Jahre alt und durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen.
Mehr oder weniger, korrigierte Claesson sich selbst. Tina Rosenkvist hatte ihr Privatleben ganz
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