Tod in der Walpurgisnacht
abschloss.
Dann gingen sie die Steintreppe hinunter, die Füße erkannten die Stufen wieder, alles wie früher, dachte sie. Jetzt gehörte das Haus der Glashütte, aber das spielte keine Rolle. Sie war hier, und darauf kam es an.
Sie stellten sich mitten auf den Sodavägen und sahen zum Himmel hoch. Es war immer noch windstill, und die Wolken hatten sich schnell zusammengezogen. Ob es ein Gewitter geben würde?
»Wohin sollen wir gehen?«, fragte Sam.
»Ich würde gern zum Hjortsjön«, sagte Hilda. »Das ist nicht weit, wenn es anfängt zu regnen, können wir ja wieder nach Hause laufen.«
Sam zögerte und schlug stattdessen eine Runde durch das Dorf vor. Nun standen sie unentschlossen da. Würden sie es zum See schaffen, ehe das Unwetter begann, oder nicht?
»Es ist ja auch nicht so schlimm, wenn wir nass werden«, meinte sie und pikte ihm kameradschaftlich in den Bauch.
Doch er blieb unschlüssig. Warum wehrte er sich so?
In diesem Augenblick warf sie einen Blick auf das grüne Haus und hatte plötzlich den Eindruck, als würde dort jemand hinter der Gardine stehen und sie beobachten. Mariana oder Johannes Skoglund. Oder beide. Wer sollte das sonst sein?
»Ich glaube, da steht jemand hinter der Gardine«, flüsterte sie und beugte ihren Kopf zu dem ihres Bruders. »Oder bilde ich mir das ein? Sitzt mir das von früher her noch in den Knochen?«
Sam zuckte mit den Schultern: »Lass sie doch kucken! Sie haben allen Grund sich zu wundern. Wir beide sind doch wie zwei Wiedergänger. Gespenster aus der Vergangenheit, auch wenn sie das nicht wissen.«
»Aber vielleicht ahnen sie es.« Hilda schüttelte sich, und die Spannung kitzelte sie.
»Okay«, sagte Sam schließlich, und sie wandten beiden Häusern den Rücken und gingen Richtung See. Sie bekam ihren Willen.
Hilda hatte einen warmen Pullover von Sam ausleihen dürfen, den sie jetzt unter dem Mantel trug. Die Müdigkeit und die Anspannung hatten sie frieren lassen. Jetzt versteckte sie ihre Nase im Kragen und schnüffelte. Es roch nach Sam, das mochte sie sehr. Der Pullover schenkte ihr dieselbe Geborgenheit wie ein Kuscheltier.
Sie gingen im Gleichschritt mit forschen Schritten am Straßenrand entlang. Es wurde wärmer. Ihre Hände berührten sich, und davon wurde ihr ganz warm ums Herz.
Die Szene, als die beiden Frauen vom Jugendamt sie und Sam getrennt hatten, hatte sich im Laufe der Jahre so oft in ihrem Kopf abgespielt, dass sich das ganze Geschehen auf ewig in ihr eingebrannt hatte.
»Familie Lager haben wir es zu verdanken, dass wir uns wiedergefunden haben«, sagte sie. »Dass die Lagers so klug und verständig waren, dass sie über das Jugendamt Kontakt zu Britta-Stina und Robert aufgenommen haben.«
Samuel sah zu Boden und nickte.
»Weißt du noch«, begann er, »das erste Mal haben wir uns kaum wiedererkannt. Wir waren beide gewachsen und standen uns wie zwei Fremde gegenüber und glotzten verklemmt.«
»Fast so wie jetzt!«, sagte sie.
»Es dauert immer ein bisschen, bis man warm wird«, erwiderte er mit einem Lächeln.
»Erinnerst du dich noch an diese Frauen vom Jugendamt, die dich geholt haben?«, fragte sie.
»Das waren eine Frau und ein Mann«, berichtigte Sam sie.
Ach, ehrlich?, dachte sie und war verblüfft. Da musste sie den Film, der all die Jahre in ihrem Kopf abgelaufen war, ja korrigieren.
»Waren die nicht fies?«, fragte sie.
»Nein, nicht soweit ich mich erinnere«, antwortete er. »Aber an so wahnsinnig viel erinnere ich mich auch nicht. Ich habe hauptsächlich hinten im Auto gesessen und geheult. Oder habe versucht, nicht zu heulen, und das hat alle Kraft gekostet.«
Ein Auto aus Richtung Aboda fuhr an ihnen vorbei. Sie nickten dem Fahrer zu, wie man es auf dem Land tat. Hinter dem Steuer saß ein Mann in ihrem Alter, an den dunklen Kotflügeln waren Dreckspritzer.
»Ich glaube, das war Mattias«, meinte Sam. »Mattias Skoglund.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kenne ihn ein wenig. Er arbeitet in der Hütte und war dabei, als wir meine Kerzenleuchter, die Eiszapfen, gegossen haben.«
»Wie spannend!«
»Ja, das ist wirklich heftig. Die Leitung hatte natürlich ein erfahrener Meister, Peo Jeppson heißt er. Vor allem die Herstellung der Metallform ist aufwändig«, berichtete er, und Hilda merkte, wie engagiert er war. »Ich wollte gern eine etwas unebene, raue Oberfläche haben und nicht so ein deutliches Muster, wie man es bei Pressglas hat. Und dann sollte der Kerzenleuchter schwer sein, ein gefrorenes
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