Tod in der Walpurgisnacht
freien Tagen noch einmal alles durchchecken wollten und als könnten sie alles, womit sie sich in den letzten Wochen herumgeschleppt hatten, jetzt keine Minute länger aufschieben. Hilda hatte gelernt, dass man das so hinnehmen musste.
Sie beobachtete Veronika, die summend den Korridor hinunterging. Sie gingen gemeinsam die Treppe zur administrativen Station hinauf, stempelten aus und gingen ins Arbeitszimmer, um sich umzuziehen. Hilda nahm sich ein Päckchen Taschentücher aus dem Schreibtisch, holte das vorletzte Taschentuch heraus und schnäuzte sich, als ihr Blick auf die Krankenakte ihrer Mutter fiel. Jetzt war endlich die richtige Gelegenheit, um Veronika zu fragen.
Ihr Herz schlug schneller, und sie nahm wie schon so oft Anlauf, schaffte es aber trotzdem nicht. Es war, als wollte sie nicht wagen zusammenzubrechen. Das war alles so unüberschaubar und furchtbar. Und was war, wenn Veronika sich nicht erinnerte?
Da schaute einer der Gynäkologen ins Zimmer und fragte Veronika nach einer Patientin, die sie gemeinsam operiert hatten.
Hilda zog sich schweigend um und schlug ihr Vorhaben, Veronika anzusprechen, in den Wind. Sie brauchte mehr Zeit, und bestimmt hatte Veronika es eilig, nach Hause zu den Kindern zu kommen.
Hilda angelte ihre Mütze aus dem Rucksack und trat in die frische Luft. Es war kühl, fast etwas ungemütlich, und sie zog die Mütze über die Ohren. Es war natürlich eine Niederlage, die Mütze wieder rausholen zu müssen, aber sie hatte keine Lust, auch noch eine Mittelohrentzündung zu kriegen.
Hinter sich hörte sie rasche Schritte. Sie wandte sich um. Daniel Skotte.
»Hilda, was machen Sie denn morgen an Walpurgis?«
Er sah so flehend aus, dass sie fast wünschte, »noch nichts« antworten zu können, obwohl der Gedanke an einen Abend mit ihm unerträglich war.
»Ich fahre weg«, sagte sie unkonkret, holte das letzte Papiertaschentuch aus der Tasche, schnäuzte sich und sah dann mit roten Augen zu ihm hoch.
Doch er bemerkte ihre Verlegenheit wahrscheinlich gar nicht.
»Wie schade«, antwortete er niedergeschlagen. »Und heute Abend?«
»Bin gerade auf dem Weg zu meinen Eltern.«
Er hatte kein Glück, der Arme, dachte sie, als sie seine Enttäuschung sah. Aber sie war doch froh, auf ehrliche Weise aus der Sache rauszukommen.
Meine Eltern. Diese Formulierung hatte sie oft und ganz natürlich in ihrem Leben benutzt. Doch als sie jetzt ihre eigenen Worte hörte, erschütterte es sie ein wenig. Der biologische Ursprung hatte sie eingeholt wie ein Schatten, der plötzlich sichtbar wurde.
Britta-Stina und Robert hatten mit ihr zum Maifeuer gehen wollen, und sie hatte etwas über Freunde zusammengelogen, die sie besuchen würde. Sie sahen das positiv – das Mädchen hatte Freunde – und freuten sich, dass sie stattdessen an diesem Abend kommen würde.
Die Steigung am Norrtorn kostete Kraft, und es brannte im Hals. Sie hatte die beiden schon vorgewarnt, dass sie eine fette Erkältung hatte, aber weder Britta-Stina noch Robert waren Hypochonder, und deshalb war sie trotzdem willkommen.
»Hast du mit dem Schnupfen gearbeitet?«, fragte Britta-Stina, die Sorgenfalte tief wie eine Kerbe in der Stirn.
Hilda nickte. »Es ging ganz gut«, sagte sie tapfer mit belegter Stimme.
»Na, ich dachte mehr an die Patienten«, sagte Britta-Stina, und Hilda schämte sich ein wenig. »Ich hoffe, es schmeckt dir, wenn du überhaupt noch was schmeckst«, scherzte Britta-Stina und stellte das Essen auf den Tisch.
Lachs mit Zitrone und Salzkartoffeln und Crème fra î che mit rotem Kaviar. Hilda schmeckte tatsächlich fast nichts, aß aber trotzdem, denn ihr Magen war leer.
Britta-Stina und Robert erfuhren, dass es ihr in der Klinik gut gefiel. Sie hörten gern, wenn sie von der Arbeit im Krankenhaus erzählte. Britta-Stina hatte schließlich einige Erfahrung mit dem Gesundheitssystem, mit den verschiedenen Schmerzmitteln und der Krankengymnastik für die Schultern. Sie erzählte ein wenig davon, und Hilda nickte und betonte, dass sie ja immer noch Anfängerin sei und sich noch kein ganzes Bild habe machen können.
Vor allem besaß sie keinerlei Spezialwissen zum Thema Schultern und war auch nicht besonders geübt, mit der Kombination Angehöriger und psychosoziale Überlagerungen eines chronischen Schmerzzustandes umzugehen. Das war ein heikles Thema.
Also erzählte sie lieber von dem Kleid, das sie für Fresia Gabrielsson genäht hatte und das im Grunde fertig war. Britta-Stina lebte auf und
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