Tod in der Walpurgisnacht
hatte.
»Und dann hat so einer wie Samuel noch das unverschämte Glück, an einem guten Ort zu landen. Wenn Papa sich da hätte einmischen können, dann hätte er dafür gesorgt, dass er ins Waisenhaus kam oder zu irgendwelchen wertlosen Leuten, die sich so um euch kümmerten, dass ihr unschädlich gemacht worden wärt. So dass ihr kriminell oder drogenabhängig würdet oder du eine richtige Hure. Dass ihr Menschen werden würdet, denen keiner glauben würde, wenn ihr den Mund aufmacht. Alle würden sagen, ihr redet nur Scheiße und denkt euch alles aus. Keiner glaubt, was Jugendliche sagen.«
Die Ohnmacht packte sie wieder.
»Ich weiß sehr gut, womit Papa sich so beschäftigt hat«, fuhr er fort. »Aber dich hat er in Ruhe gelassen, an Mädchen wollte er nicht rumfummeln. Deshalb ist meine Schwester auch davongekommen.«
Er verließ den Waldweg und fuhr durch ein Wohngebiet direkt nach Hjortfors hinein. »Verdammt, was ich euch, dich und meine Schwester, dafür gehasst habe, dass ihr in Ruhe gelassen wurdet.«
»Das war natürlich schlimm«, sagte sie und meinte, ihn damit erreichen zu können.
»›Das war natürlich schlimm‹«, äffte er sie nach. »Was glaubst denn du, wer du bist, zum Teufel. Eine verdammte Psychotante?«
»Ich wollte dich nicht wütend machen!«, sagte sie und hob die Hände in die Luft. Sie suchte nach einem Ausweg. Die Straße war asphaltiert, das Auto fuhr jetzt gleichmäßiger. Sollte sie es wagen, die Tür aufzumachen und rauszuspringen?
»Was glaubst denn du?«, wiederholte er, und sie hörte, dass er nicht aufhören konnte, er hatte noch mehr auf dem Herzen. »Es war doch klar, dass Papa über mich hergefallen ist. Diese Sorte gibt doch nie auf, die machen immer weiter, bis sie im Gefängnis landen. Wenn überhaupt! Es gibt sicher viele, die ihn gern hätten brennen sehen, schwach und elend und leidend. Glaubst du nicht, dass Sam das gewollt hätte?«
Sie schwieg. Sam, dachte sie. Nicht Sam!
Er fuhr jetzt ungefähr fünfzig. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ließ die rechte Hand wie zufällig auf dem Türgriff landen und wollte gerade aufmachen, als sie seine Geste sah.
»Die Tür ist verschlossen«, sagte er überlegen. »Für wie blöd hältst du mich eigentlich?« Er warf ihr einen raschen Blick zu und grinste. »Aber Papa hat an alles gedacht. Er hat wohl geahnt, dass dein Bruder eines schönen Tages auf andere Gedanken kommen und anderen davon erzählen würde. Es ist schließlich schick darüber zu reden, mit Therapie und all dem Kram, was man erlebt hat. Zurück in die Vergangenheit und sich outen und alles erzählen, damit man ein bisschen Aufmerksamkeit kriegt, und das kommt dann in der Zeitung und im Radio und Fernsehen. Überall wird drüber geredet, und am Ende würde dein Bruder dann eine Berühmtheit werden, und zwar auf Kosten meines Vaters.«
Hilda war verwirrt.
»Aber das wärst du doch auch!«
»Ja, aber er ist schließlich mein Vater, verdammt noch mal! Stell dir doch mal vor, was das im kleinen Hjortfors geben würde. Ich würde nicht mehr hier wohnen können, aber dein Bruder kann ja immer locker seinen Skizzenblock nehmen und woanders hingehen.«
Er lachte bitter. Hilda gab auf. Sie wusste weder ein noch aus, und das Einzige, was sie kapierte, war, dass es sinnlos war, mit ihm zu reden.
Sie kamen zu einer Zeit in den Ort, als in der Hütte die Schicht beendet war. Die meisten Leute waren zu Hause beim Abendessen, die Straßen waren verhältnismäßig leer. Er parkte hinter der Hütte, da konnte niemand sie sehen. Er schloss das Auto auf, Hilda stürzte augenblicklich ins Freie und rannte los. Aber er kam hinterher, holte sie zwischen der Graveurwerkstatt und der alten Tischlerei ein, legte einen Arm von hinten um ihren Hals, so dass sie meinte zu ersticken. Er zwang sie zur Tür auf der Rückseite der Hütte, schloss auf und boxte sie rein. Das musste ein Personaleingang sein, dachte sie, und ihr wurde klar, dass da kein Mensch sein würde. Sein Arm packte sie noch fester um den Hals, sie versuchte sich loszutreten, aber dann drückte er so fest, dass sie keine Luft mehr bekam und Sterne sah. Ganz hinten in ihrem Kopf schrillten alle Alarmglocken. Dies war ein Mann, der schon einmal getötet hatte. Er konnte es wieder tun.
Er trieb sie in einen engen Flur. In der Nähe war Dröhnen und Bollern zu hören, das kam sicher aus der Hütte von den Glasöfen, den Kühlöfen und den Ventilatoren.
»Du bleibst hier«, drohte er ihr, packte ihren
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