Tod in der Walpurgisnacht
im Wohnzimmer stand, so dass jeder sie sehen konnte. Ihre Mutter fand, der Vater sei ein »gutaussehender Mann«, und wenn sie das sagte, dann bekam sie fröhliche Lachfältchen um die Augen.
Die Erinnerung stieg in ihr hoch, als Hilda die Treppe zu ihrem Dienstzimmer hinaufging. Die Tränen drückten, brachen aber nicht hervor. Sie hatte lange Übung darin, sie zurückzuhalten.
Ihr rotes Fotoalbum mit einem Pferdekopf auf der Vorderseite ließ erklärlicherweise die Säuglings- und Kleinkindjahre vermissen. Das Album begann mit ihrem ersten Jahr in der Mittelstufe in Oskarshamn, als die »Behörden«, wie Robert es nannte, entschieden hatten, dass sie bei ihm und Britta-Stina bleiben durfte.
Sie zog ihre ID -Karte durch das Lesegerät und schob die Tür mit der Schulter auf. Sie hätte gern mehr Bilder von Sam. Im Album klebte nur ein erbärmliches kleines Foto, das Robert gemacht hatte, als sie einmal zu Besuch in Kalmar gewesen waren.
Sam war in Kalmar geblieben. Er war dorthin gefahren an dem Tag, als sie nichts begriffen hatte, außer dass die Welt nie wieder so sein würde wie früher. An dem Tag, als das rote Auto Sam abgeholt hatte.
Sie betrat das Dienstzimmer und schob die Gedanken an Samuel im selben Moment beiseite, als sie Veronika begrüßte, die sich gerade umzog.
Selbst zog sie wortlos Jacke und Rock aus und die weißen Hosen an. Jetzt waren sie so nah beieinander, Veronika und sie. Noch fünf Minuten war es bis zur morgendlichen Übergabe, und Veronika hatte sich an den Computer gesetzt. Hilda nahm einen sauberen Kittel von dem Stapel im Regal, den sie aus dem Lager im Keller geholt hatte, und sortierte den Tascheninhalt aus dem alten Kittel in den neuen.
Jetzt, dachte sie und machte den Mund auf.
»Veronika«, begann sie, »ich würde gern etwas fragen. Es geht um eine alte Krankenakte, die wirklich so alt ist, dass du dich bestimmt nicht daran erinnerst …«
Da klingelte Veronikas Handy.
»Entschuldigung«, sagte sie und nahm es ans Ohr.
Jemand von der Tagesstätte. Wegen der Kinder.
Die Kollegen vom Nachtdienst begannen mit dem Bericht, doch Hilda hörte nur mit einem Ohr zu. Daniel Skotte versuchte über die Längsseite des Konferenztisches hinweg, ihren Blick einzufangen. Sie erwiderte sein Lächeln.
Am Abend zuvor war sie mit zwei anderen jüngeren Ärzten in der Kneipe gewesen, und Daniel war zu ihnen gestoßen. Es war nicht das erste Mal, dass er sie während der Übergabe mit seinem Blick einsog. Völlig verrückt, aber gleichzeitig völlig ungefährlich, sie musste sich nicht erwehren, sondern konnte ihn ganz leicht auf Abstand halten. Sich mit Skotte einzulassen, wäre jetzt gerade das Dümmste, was sie tun könnte.
Stattdessen dachte sie daran, dass in dem Moment, als sie aus dem Lokal nach Hause kam, der Mann, den sie zuvor nur kurz durch die Eingangstür gesehen hatte, gerade seine Wohnungstür aufgeschlossen hatte. Er wohnte zwei Stockwerke unter ihr. Sie nickten einander freundlich zu, das musste man, wenn man sich in einem engen Treppenhaus begegnete. Er sah ihr nach, als sie die Treppe hinaufging, da war sie ganz sicher. Die Tür schloss sich mit einiger Verzögerung, wahrscheinlich stand er da und horchte, um erraten zu können, in welchem Stockwerk sie wohnte.
Jetzt wohnte sie schon fast drei Monate in dem Haus, hatte ihn bisher aber nie gesehen. Er sah nett aus. Freundliche Augen unter der dicken, etwas schiefen Haartolle.
Sie vermied es, zu Daniel hinüberzusehen. Was das Thema Männer anging, hatte sie ein paar Baustellen offen. Fredric Lido, dachte sie. Der Ball war auf seiner Seite, wenn er nur wollte! Fredric konnte jeden Augenblick Schluss machen. Kein Problem für sie!
Doch bis dahin war es vielleicht ganz gut, ihn zu haben. Zumindest als Freund.
Fredric Lido hatte, seit sie nach Oskarshamn gekommen war, tatsächlich nur ein paarmal gemailt und kaum angerufen oder SMS geschickt. Sie hatte jeweils mit ein paar kurzen Zeilen geantwortet, aber nicht mit »Kuss und Umarmung«. Auch nicht mit »deine Hilda«, nichts Romantisches oder Altmodisches. Meistens hieß es » LG !«
Sie hatten darüber gesprochen, nach dem PJ zusammenzuziehen. Freddi und sie. Sie waren so konkret geworden, dass es ihr jetzt die Sprache verschlug. Was für ein Glück, dass sie nach Oskarshamn gezogen war.
Sie hatten sich überlegt, dass sie irgendwo in Skåne wohnen wollten, da Fredric neben dem PJ immer noch in der Immunologie in Lund forschte. Am liebsten Lund oder Malmö oder
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