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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Avanzini
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angerufen.« Er holte tief Luft. »Sie hat mir erzählt, dass Isabel beim Schwimmen einen Herzstillstand erlitten hat. Dass sie aufgrund einer fatalen Kombination von jugendlichem Untergewicht und einem unerkannten Herzfehler gestorben sei.«
    »Jugendliches Untergewicht!« Vera lachte rau auf. »Meine Schwester war magersüchtig. Und wissen Sie warum?«
    »Eine Modeerscheinung! Viele Mädchen leiden in der Pubertät an einem Schlankheitswahn.«
    »Wussten Sie, dass Magersucht sich oft aus der Weigerung entwickelt, erwachsen zu werden? Dass meistens eine verletzte Seele dahintersteckt, wenn Mädchen nichts mehr essen?« Sie kramte in ihrem Rucksack und zog Isas Tagebuch heraus.
    »Was ist das?«
    Sie schlug einen der letzten Einträge auf und schob ihm das Heft hin. »Lesen Sie.«
     
    12. Mai 2010
    Endlich wieder zu Hause. Die Fahrt mit dem Bus war furchtbar, Stau, Hitze, Hitze, Stau. Sechseinhalb Stunden haben wir gebraucht statt vier. Und das war noch das Beste. Denn der Rest war RICHTIG furchtbar, Bologna eine einzige Katastrophe.
    Dabei habe ich mich so auf das Austauschkonzert gefreut und darauf, mit Sarah und Ruth in einem Dreibettzimmer zu übernachten. Unser Hotel war wie aus dem Märchen: halb verfallene Mauern, schwere Brokatvorhänge und Tapeten mit Blumenmuster. Das Konzert fand im Teatro Manzoni statt. Ich durfte zum ersten Mal auf einem Fazioli-Flügel spielen, einem phantastischen Instrument mit sattem Klang. Es war ein voller Erfolg! So tadellos ist mir die g-Moll-Ballade von Chopin noch nie gelungen. Das Publikum hat getobt, ich musste die »Träumerei« von Schumann als Zugabe spielen.
    Im Künstlerzimmer haben mir alle gratuliert. Nur Sergej war einsilbig. Das hat mich verunsichert. Meinem Gefühl nach war ich gut, vielleicht sogar sehr gut. Aber er hat mich kaum angesehen, also dachte ich, er fand meine Interpretation langweilig. Das Spiel einer zahnlosen Greisin. Nach dem Konzert gab es im Hotel ein Wahnsinnsbuffet mit allen möglichen italienischen Delikatessen. Sogar Prosecco. Ich konnte kaum was essen. Ich habe gewartet, bis Sergej hinausgegangen ist. Dann bin ich ihm gefolgt. Habe ihn angesprochen.
    »War die Ballade nicht gut? War sie zu wenig leidenschaftlich?« Das war es ja immer, was er auszusetzen hatte. Die fehlende Leidenschaft.
    Er seufzte. »Ach, Isotschka. Dein Spiel war nicht gut«, sagte er und sah mich so seltsam dabei an. »Es war phantastisch.«
    Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen. Was heißt ein Stein? Die ganze Nordkette.
    Plötzlich hat er mich umarmt und auf den Mund geküsst. Seine Lippen waren weich und warm, und sein Bart kitzelte. Mir ist schwindlig geworden. Meine Knie müssen sich in Knetmasse verwandelt haben, jedenfalls haben sie nachgegeben.
    Sergej fing mich auf und trug mich in sein Zimmer.
    Er legte mich aufs Bett. Seine Hände waren überall, haben mich ausgezogen, haben mich gestreichelt.
    Ich wollte das nicht. Ich wollte »Nein!« sagen, aber mein Mund war wie ausgedörrt. Nicht einmal den Arm konnte ich heben. Als hätte jemand meine ganze Kraft und meinen Willen einfach abgesaugt.
    Ich habe alles mit mir machen lassen. alles.
    Es hat wehgetan, aber das war nicht das Schlimmste. An der Wand gegenüber hing ein Spiegel. Darin habe ich gesehen, wie er auf mir herumgeturnt ist. Wie er meine Brüste gestreichelt hat. Noch nie sind sie mir so fett vorgekommen. Scheußlich fett.
    Ich hasse sie. Ich hasse, hasse, hasse meine Brüste, meinen Körper, ihn, mich. Die ganze Welt.
    Irgendwann gegen Morgen ist er eingeschlafen. Und ich habe es schließlich geschafft, aufzustehen, mich anzuziehen, in mein Zimmer zu schleichen. Zum Glück haben Sarah und Ruth nichts mitgekriegt.
    Ich weiß nicht, wie es jetzt weitergehen soll. Was mich in der nächsten Klavierstunde erwartet. Am liebsten würde ich in ein Loch verschwinden.
    * * *
     
    Sofronsky schlug das Buch zu, als hätte er sich verbrannt. Der Vorfall in Bologna war ihm lebhaft in Erinnerung. Er hatte zu viel getrunken, war überwältigt gewesen von Isabels Schönheit, von ihrer kindlichen Reinheit. Wie ein Engel war sie ihm damals erschienen. Sein Engel.
    »Ich habe sie geliebt. Ich wollte sie nicht verletzen, niemals! Ich dachte …«
    »Mit welchem Körperteil haben Sie gedacht?«, fauchte Vera.
    »… ich war überzeugt davon, dass sie es genauso wollte wie ich. Dass sie die Bedeutung von Leidenschaft und Liebe kennenlernen wollte. Wie wunderschön und wichtig sie sind. Unerlässlich für jeden Musiker.«

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