Tod in Lissabon
Neuigkeiten wieder nach Hause gegangen.
Am späten Vormittag war ihr Vater zur ersten öffentlichen Versammlung der Partido Comunista Português auf der Werft in Cacilhas am Südufer des Tejo gegangen. Ana Rosa und ihre Mutter hofften, dass er mit der Nachricht von der Freilassung aller politischen Gefangenen aus dem Gefängnis von Caxias heimkehren würde.
Der kleine Carlos hatte seinen Vater noch nie gesehen. Seine Mutter war im sechsten Monat schwanger gewesen, als die Guarda Nacional Republicana ein Gewerkschaftstreffen auf der Werft gesprengt und seinen Vater zur Befragung ans andere Ufer geschafft hatte. Zwei Wochen vor Carlos’ Geburt hatte Ana Rosa erfahren, dass ihr Mann ins Gefängnis von Caxias gebracht worden war, wo er eine fünfjährige Haftstrafe wegen illegaler politischer Betätigung absitzen sollte.
Sie warteten den ganzen Tag. Als die Dämmerung schon in den Abend übergegangen war, klopfte es. Ana Rosa zog ihre Hand aus den Händen ihrer Mutter und öffnete die Tür. Ein Junge übergab ihr eine Botschaft und rannte, ohne zu warten, weiter. Ihre Tränen waren im Laufe des Tages getrocknet, doch als sie die Nachricht las, begann sie aufs Neue zu weinen.
»Was ist los?«, fragte ihre Mutter.
»Sie sind mit einem Boot übergesetzt. Auf dem Rossio versammelt sich eine Menschenmenge. Heute Nacht wollen sie zum Gefängnis von Caxias marschieren.«
Am 26. April um fünfzehn Uhr wurde die Tür der Zelle von António Borrego im Gefängnis von Caxias aufgeschlossen. Der Wärter sagte nichts, sondern ging wortlos zur nächsten Zelle weiter. Zusammen mit anderen Gefangenen blickte António in den schwach beleuchteten Flur. Es gab Jubel und Umarmungen. António drückte sich an den Feiernden vorbei und trottete drei Stockwerke hinunter in den Hof, wo weitere fünfzig Männer erwartungsvoll zum Gefängnistor blickten. Er lief über den Hof zu dem Krankenblock und die Treppe zum zweiten Stock hinauf, wobei er zwei Stufen auf einmal nahm, sodass er oben Luft holen musste, weil er mehr außer Form war, als er gedacht hatte.
Auf der Station lagen drei Männer. Zwei schliefen, der dritte, Alexandre Saraiva, saß auf der Bettkante und versuchte unter starkem Husten erfolglos, seine Socken anzuziehen. António nahm die Socken und streifte sie über die Füße seines Freundes, bevor er ihm die Schuhe anzog und zuband. Alex spuckte in die Metallschale auf seinem Nachttisch und begutachtete den Schleim.
»Immer noch blutig«, sagte er zu niemand Bestimmtem. »Bist du gekommen, um mich nach Hause zu bringen?«
»Ja«, sagte António.
»Wer bezahlt das Taxi?«
»Wir gehen zu Fuß.«
»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Es hat mich schon beinahe umgebracht, mich nur anzuziehen.«
»Du wirst es schon schaffen.«
António legte Alex’ Arm um seinen Hals, und sie standen gemeinsam auf. Dann hakte António einen Daumen in Alex’ Hosenbund, und sie gingen die Treppe hinunter zum Hof, wo sich mittlerweile mehr als hundert Männer versammelt hatten. Der Lärm einer vor dem Tor randalierenden Menschenmenge schlug ihnen entgegen. Namen wurden gerufen und gingen im allgemeinen Getöse unter. António lehnte Alex an die Wand und stützte ihn locker mit einer Hand ab.
Unter ohrenbetäubendem Jubel der Leute, die kostenlos mit dem Zug aus Lissabon gekommen waren, wurde das Tor geöffnet, und die Gefangenen blinzelten auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht in die Blitzlichter der Kameras.
António wartete, bis der Hof sich geleert hatte, bevor er Alex in die Freiheit führte, die sie beide seit neun Jahren nicht mehr kannten. Sie mieden die euphorische Masse und gingen den Hügel hinab Richtung Caxias. Sie mussten nicht weit laufen. Ein Taxifahrer bot ihnen unter Tränen eine Freifahrt nach Paço de Arcos an.
Vor Alex’ Bar neben dem öffentlichen Park stiegen sie aus. Die blauen Kacheln mit der fein gestrichelten Darstellung des Leuchtturms von Búgio und dem Schriftzug »O Farol« waren unversehrt. Alex klopfte an die geschlossenen Fensterläden des Nachbarhauses. Eine alt und müde klingende Frau fragte: »Wer da?«
»Ich bin’s, Dona Emília«, sagte Alex.
Die zahnlose, vollkommen schwarz gekleidete Frau öffnete die Tür und spähte hinaus in den Abend. Ihr Augenlicht war nicht mehr so gut. Als sie Alex sah, fasste sie mit knotigen Fingern sein Gesicht und küsste ihn abwechselnd auf beide Wangen, fester und fester, als wollte sie ihn ins Leben zurückküssen. Dann holte sie Kerzen aus der Küche
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