Tod in Lissabon
ihm auch egal gewesen. Er hatte im Kreis gedacht, immer wieder denselben abgetretenen Zirkel. Er hatte stundenlang geraucht, Zigarette um Zigarette, kiloweise Tabak, während er jeden Moment, den er mit Eva verbracht hatte, analysierte, um den entscheidenden Augenblick zu identifizieren. Und als er den Augenblick nicht fand, betrachtete er Eva aus einem anderen Blickwinkel, wog jeden Satz, jede Phrase und jedes Wort ab, die zwischen ihnen gefallen waren, und auch die, die sie nicht gesagt hatte, was noch schwieriger war, weil Eva immer gern zwischen den Zeilen gesprochen hatte. Sie ließ das Sagbare ungesagt und sagte, was sie meinte, ohne es auszusprechen.
Er erinnerte sich daran, wie sie nach vierjähriger Freundschaft zum ersten Mal in seinem Bett gelandet war. Sie hatte mit schwarzen Seidenstrümpfen und Strumpfbändern auf ihm gehockt und seine Brust gestreichelt.
»Warum?«, hatte er gefragt.
»Warum was?«
»Nach all den Jahren … warum bist du hier?«
Sie hatte die Lippen geschürzt und ihn aus den Augenwinkeln gemustert, während sie die Frage und ihre langfristigen Folgen abgewogen hatte. Dann hatte sie plötzlich mit beiden Händen seinen Penis gepackt und gesagt:
»Wegen deines großen schwäbischen Schwanzes.«
Sie hatten gelacht. Das war es nicht, aber es würde als Antwort reichen.
Als er jetzt zum hundertsten Mal an den Punkt kam, an dem Eva ihm in den Rücken gefallen war, wand er sich gequält von Eifersucht auf seinem Sitz. Er sah den Gruppenführer mit seinen breiten Hüften, seiner rosigen Haut und seinen formlosen Hinterbacken zwischen ihren weißen Schenkeln, angefeuert von ihren Fersen und ihrem stoßweise gehenden Atem, sein zitterndes Grunzen an ihrem Hals, ihre klammernden Finger auf seinem schwabbeligen Rücken, seine gierigen Hände, ihre nach oben gerissenen Knie, seine heftiger werdenden Stöße … Felsen schüttelte den Kopf. Nein. Und dann kehrte er zu dem Bild der rittlings in schwarzen Strümpfen auf ihm sitzenden Eva zurück … Warum?
»Macht kommt bei den Damen ganz groß an«, hatte Lehrers Chauffeur gesagt, »sogar Himmler …« Daran hatte Felsen gedacht, als er Lehrer am Morgen, nachdem er ihn mit Eva im Klub gesehen hatte, beim Essen beobachtete. Daran hatte er gedacht, als er an dem düsteren Vormittag zur Schweizerischen Nationalbank gegangen war, die Übergabedokumente unterzeichnet, die Verladung des Goldes überwacht, Lehrer die Hand geschüttelt hatte und ihn zurück zum Hotel Schweizerhof hatte gehen sehen, unterwegs zu seinen drei Tagen mit Eva in Gstaad.
An den Grenzübertritt konnte er sich kaum erinnern. Bis auf den dummen Fahrer erinnerte er sich an keinen einzigen Moment seines Frankreichaufenthaltes. Er hatte in seinem eigenen Kopf gelebt, bis sich an jenem Morgen die Wolken über den Pyrenäen gelichtet hatten und die Schweizer nicht aufhören konnten, darüber zu reden.
An jenem Abend betrank er sich mit dem Standartenführer einer Panzerdivision in Bayonne, der ihm erklärte, dass seine Panzer noch vor Ende des Monats in Lissabon sein würden.
»Die Pyrenäen haben wir in vier Wochen erreicht. Bis nach Gibraltar brauchen wir jetzt noch mal zwei, eine weitere bis Lissabon. Wir warten nur darauf, dass der Führer den Startschuss gibt.«
Sie tranken Ciaret, einen Grand Cru Classé aus dem Château Batailley, flaschenweise, als wäre es Bier. In jener Nacht schlief Felsen in seinen Kleidern und erwachte am Morgen mit brennendem Gesicht und vom Schnarchen wundem Hals. Sie überquerten die spanische Grenze und wurden von einer Armee-Eskorte empfangen, die von General Francisco Franco persönlich damit betraut worden war, ihre Sicherheit zu gewährleisten. Bei Anbruch der Dämmerung kämpften sie sich noch immer die Serpentinen von Vascongadas hinauf, als würden sie Felsens Kater hinter sich herziehen.
Da sie nun nicht mehr mit Luftangriffen der Alliierten rechnen mussten, fuhren sie die Nacht durch und waren froh, die Motoren weiterlaufen zu lassen, denn als sie aus den Bergen in die Meseta kamen, blies der Wind ungehindert über die Ebene und wehte trostlosen Schneeregen in ihre LKWs.
Am Straßenrand tauchten Flüchtlinge auf, die meisten zu Fuß, manche mit einem Karren und hin und wieder ein ausgemergeltes Maultier. Es waren finstere Gestalten, die Gesichter hohl vor Hunger und Angst. Sie gingen automatisch, die Erwachsenen grimmig, die Kinder ausdruckslos. Der Anblick dieser Menschen ließ die Fahrer, die in einem fort über das Essen und die
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