Tod in Marseille
ob dessen Konten gedeckt waren, ob jemand sie in der Zwischenzeit aufgelöst hatte oder ob die Polizei nur darauf wartete, dass sie benutzt würden.
Das hast du richtig gemacht, sagte sie. Ich geb dir das Geld in bar zurück. Bestell dir was zu trinken und dann komm auf den Balkon. Wir lernen noch ein bisschen Französisch. Bestell auch eine Zeitung.
Dann saßen sie auf dem Hotelbalkon, sahen die Dunkelheit kommen und dass die Lichter im Alten Hafen angingen. Die Geräusche der Stadt klangen von weit her zu ihnen herauf.
Man weiß gar nicht, wo es mehr funkelt, am Himmel oder da unten im Hafen, sagte Nini irgendwann. Das ist der größte Mond, den ich bisher gesehen habe.
Um diese Zeit war sie in San Sebastián in die Bar an der Plaza gegangen. Sie hatte Durst und war entsetzlich müde.
Wir machen Schluss für heute.
Maria-Carmen war einverstanden. Sie half der alten Frau beim Auskleiden.
Weshalb sind wir eigentlich hier, fragte Nini. Es klang allerdings nicht wie eine Frage.
Morgen, lass uns morgen darüber reden, wie es weitergeht. Schlaf jetzt. Der Tag war lang genug.
Die Tür zwischen den Schlafzimmern wäre nicht nötig gewesen. Nini schlief sofort ein und würde sicher ein paar Stunden lang nichts merken von dem, was um sie herum vorging. Maria-Carmen legte das Geld, von dem sie annahm, dass es für zwei Nächte genug wäre, auf den Tisch am Fußende des Betts. Sie blickte noch einmal zu Nini hinüber. Die alte Frau sah in demgroßen Bett winzig aus, noch winziger, als sie in Wirklichkeit war.
Das ist ihre Stadt, dachte das Mädchen. Sie wird sich zurechtfinden. Und wenn nicht, kann sie immer noch zurückfahren. Bei dem Gedanken an San Sebastián, an die Wohnung ihrer Eltern, an ihren Vater, der sie nie in Ruhe lassen würde, wo immer sie auch unterkäme, wurde ihr beinahe übel. Sie trank einen kleinen Schluck aus der Ginflasche, lief ins Bad und spülte sich den Mund aus. Dann schloss sie die Tür zwischen den Zimmern. Die geschlossene Tür würde Nini am Morgen davon abhalten, gleich nach dem Aufwachen nach ihr zu sehen. Je später sie merkte, dass sie allein war, desto besser.
Maria-Carmen duschte und bediente sich hingebungsvoll der Cremes und Wässerchen, die im Bad herumstanden. Sie trocknete ihr Haar und besah sich ausführlich im Spiegel. Sie war sehr jung. Das könnte ein Nachteil sein. Aber sie war hübsch und intelligent. Und ein paar Worte Französisch konnte sie auch schon.
Gerd-Omme Nissen
Der Tag, an dem Bella Block Gerd-Omme Nissen kennenlernte, war ein Sonntag. Später hatte sie darüber nachgedacht, weshalb ihre Menschenkenntnis, auf die sie sich eigentlich verlassen zu können glaubte, sie nicht gewarnt hatte. Da kam sie darauf, dass sie einfach so etwas wie ein Kontrastprogramm gesucht hatte und deshalb unaufmerksam gewesen war.
Am Abend zuvor war sie in einer Wohnung gewesen, die ihr, wenn sie später daran dachte, wie ein Nebeneingang zur Hölle vorgekommen war; ein Nebeneingang, bis unter die Decke vollgestellt mit Müll. Das Kind, das auf der Straße gestanden und geplärrt hatte, an der Hand, war sie durch die Wohnungstür, die nur angelehnt gewesen war, in eine stinkende Ansammlung von Plastiktüten und Kartons geraten, die sich bis unter die Decke des Wohnungsflurs türmte. Während sie, den Atem anhaltend, stehen blieb, hatte sich das Kind von ihrer Hand losgemacht und war im Müll verschwunden. Hier kann unmöglich jemand wohnen, dachte sie, rief aber trotzdem »Hallo« in den Müllhaufen. Sie rief mit gepresster Stimme, weil sie es vermied, den Mund weiter zu öffnen als nötig. Nach jedem »Hallo« machte sie eine Pause und hielt sich die Hand vor den Mund. Sie wollte gerade gehen, als sie bemerkte, dass die Kartons sich bewegten. Also blieb sie stehen und wartete.
Eine Frau erschien, die einen langen Rock trug und schmutzige Füße hatte. Hinter dem Rock der Frau sah das Kind hervor, freundlich, wie es schien, während die Frau verärgert wirkte.
Was wollen Sie hier?
Na, hören Sie mal. Ich hab Ihnen diese kleine Rotznase zurückgebracht, die plärrend auf der Straße stand. Wie wär’s mit einem Dankeschön?
Das Kind begann wieder zu plärren. Die Frau griff mit dem Arm hinter sich, tätschelte ihm den Kopf und starrte Bella an, ohne etwas zu sagen. Auch Bella schwieg. Als genug geschwiegen war, drehte sie sich um und verließ den Hölleneingang. Auf der Straße atmete sie tief durch. Sie hatte sich auf einem Gang durch die Neustadt die besetzten Häuser in
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