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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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den Resten des Gängeviertels angesehen und war auf dem Weg an die Elbe gewesen, als ihr das Kind über den Weg lief. Jetzt brauchte sie erst einmal einen Wodka.
    Während sie nach einer Kneipe suchte – es gab beinahe an jeder Ecke eine, aber die meisten schieden nach einem Blick durch das Fenster aus, weil nur einzelne Säufer dort saßen, auf deren Gesellschaft sie keine Lust hatte –, war sie in Gedanken noch mit dem Gängeviertel beschäftigt. 1893 hatte hier die letzte große Cholera-Epidemie gewütet, von der Deutschland heimgesucht worden war. Alle anderen Großstädte hatten inzwischen dafür gesorgt, dass die sanitären Verhältnisse in den Arbeitervierteln verbessert wurden. Der Hamburger Senat hatte das nicht für nötig gehalten, es hätte Geld gekostet. Als dann die Cholera ausbrach, begünstigt durch Enge und Schmutz und fehlende Toiletten und fehlendes Wasser, hatten die Pfeffersäcke sich lange geweigert, die Krankheit überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und damit öffentlich zu machen. Die einzige Sorge der Regierenden war gewesen, die Cholera zu verschweigen, damit der Handel im Hafen nicht gestört würde – Hamburgs Ruf als Tor zur Welt durfte keinen Schaden nehmen. Hunderte Tote hatte diese Politik gekostet, selbstverständlich nicht in den Villenvierteln.
    Als sie eine Gastwirtschaft entdeckte, die ihren Vorstellungen entsprach, setzte sie sich so, dass sie den Gesprächen der Leute zuhören konnte, ohne selbst angesprochen zu werden. Es ging um Fußball, Krankheiten, Zinsen auf Sparguthaben und Lottogewinne. Zwei Frauen in schwarz- und rosagrundigen glitzernden Pullovern führten das große Wort. Sie waren nichtmehr nüchtern, ein Zustand, den sie mit den Männern teilten und an dem deshalb niemand Anstoß nahm. Vermutlich war das sowieso der übliche Zustand der Gäste hier. Die Frau hinter dem Tresen, sie war weder jung noch alt, hatte gelbgefärbte Haare und mehrere Knöpfe ihrer Bluse geöffnet, sodass der Ausschnitt den Ansatz ihres Busens frei ließ. Sie sah ihre Aufgabe darin, die Gläser wieder zu füllen, sobald sie leer waren. Niemand protestierte dagegen.
    Bella bestellte einen zweiten Wodka. Sie dachte über die Frau und das Kind nach, und irgendwann dachte sie, die Welt ist in horizontale Schichten gegliedert, in denen bestimmte Wohnungen und bestimmte Kneipen einander entsprechen. Das Höllentor bildet die unterste Schicht. Sie war sicher, dass es in der Stadt noch viele andere, ähnlich verkommene Wohnungen gibt. Menschen, die dort wohnen, gehen nicht aus. Die Schicht darüber besteht aus den Stammkneipen. Die Wohnungen, die dazugehören, sind klein, riechen nach Zigaretten und werden nur zum Schlafen und Kaffeekochen benutzt. Besuch ist sehr selten. Die dritte Schicht ist aus Coffeeshops und Schnellrestaurants zusammengesetzt. Die Menschen, die dort einkehren, haben zu Hause Wein im Kühlschrank, eine Kiste Wasser oder Bier auf dem Balkon, und sie lüften die Zimmer, bevor Besuch kommt. Besuch – das sind Eltern, die nie lange bleiben, Freunde, mit denen auch mal eine Nacht lang gefeiert wird, oder Arbeitskollegen, die nach Feierabend auf ein Glas Bier oder Wein vorbeischauen. Frauen besuchen öfter andere Frauen als Männer ihre männlichen Kollegen. Die nächste Schicht wird dann von Bars und In-Restaurants gebildet. Diese Schicht ist noch einmal geteilt in Unten und Oben, wobei es vorkommen kann, dass es in den Unten-Bars zu Prügeleien kommt (meist um eine Frau), auch wenn das dort nicht gern gesehen wird. Hausverbot ist nicht untypisch für diese Lokale. Man hält sich auf in Wohnungen, die mindestens drei Zimmer haben, mit Balkon oder Terrasse ausgestattet und nach Ikea-Gesichtspunkten eingerichtet sind. In den Oben-Bars und Oben-Restaurants geht es dagegen ruhig zu. Hier wird Stille bevorzugt. Im äußersten Fall ist leise Hintergrundmusik erlaubt, und Reservierungen sind üblich. Die Wohnungen oder Häuser der dazu passenden Gäste haben nicht weniger als hundertvierzig Quadratmeter, die ohne Putzfrau nicht instand zu halten sind. Shakermöbel und Jugendstil sind beliebt, alles möglichst einfach und nur hin und wieder mit einer günstig erworbenen alten Vase oder einem modernen Bild kombiniert. Moderne Bilder sind seltener als alte Vasen, und das Bedürfnis nach Selbstdarstellung ist größer als das Interesse an der Welt.
    Die Schicht, die noch darüberkommt, hat dieses Problem nicht mehr. Da ist man, was man ist, und das schon sehr lange. Geschmack, sei es in

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