Tod in Marseille
manchen Gegenden seit einiger Zeit zu Außenstellen von Restaurants und Kneipen machten, auf dem Platz an der Heiligengeistbrücke, trank Roséwein, der nicht nach Hamburg passte, und wartete. Irgendwann tauchte Kranz neben dem Steigenberger-Hotel auf.
Er ist kleiner geworden, kleiner und runder, dachte sie. Das kann doch nicht sein. Aber ihr Eindruck wurde schnell korrigiert; Kranz entdeckte Bella und hatte plötzlich die Haltung, die sie an ihm kannte: straff, elastisch, locker. Er nahm sogar seine wirkliche Größe wieder an.
Gefällt es dir hier?, fragte er, noch bevor sie sich richtig begrüßt hatten.
Nein, sagte Bella und lachte. Der Wein schmeckt, als sei er heimatlos, und ein Glühstrumpf ist gut für den Rücken, macht aber keinen Süden. Lass uns gehen.
Wie ein altes Ehepaar, dachte sie, während sie nebeneinander in Richtung Bernhard-Nocht-Straße gingen.
Wie lange kennen wir uns eigentlich schon?, fragte Kranz, vielleicht empfand er ähnlich.
Viele, viele Jahre, sagte Bella. Zuerst hast du mir das Leben gerettet …
… und dann hast du mein Leben gerettet. Wenn auch im übertragenen Sinn. Wenn ich dich nicht kennengelernt hätte, wenn ich nicht angefangen hätte, deine konsequenten Handlungen zu bewundern, wer weiß, vielleicht wäre ich noch immer im Dienst des Senats und würde Schlachtpläne gegen Demonstranten entwerfen. Ich bin dir zu Dank verpflichtet.
Sie lachten beide, weil beiden klar war, dass Bellas Beteiligung an Kranz’ Entschluss, den Senatsdienst zu verlassen, sehr gering gewesen war. Eine sehr viel größere Rolle hatte die Tatsache gespielt, dass der Hamburger Bürgermeister sich mit einem rechtsradikalen Richter verbündet und ihn zum Innensenator gemacht hatte.
Mit solchen Leuten arbeite ich nicht, hatte Kranz gesagt und seine Entlassung betrieben. Der Rechtsradikale war später über seine eigene intrigante Politik gestolpert und verprasste inzwischen, so jedenfalls kolportierten es die Boulevardzeitungen, seine Pension in dubioser Gesellschaft an südamerikanischen Stränden.
Die Tower-Bar, in der sie schließlich landeten, war noch leer. Es war zu spät für Touristen und zu früh für Stammgäste.
Nach Marseille, sagte Kranz, also, vor allzu großem Touristenrummel musst du dort keine Angst haben. Und was diese Städtepartnerschaft angeht: die ist eher von gutem Willen als von guten Ideen beseelt. Zu meiner Zeit nahmen an solchen Treffen reiselustige Reeder, vergnügungssüchtige Kaufleute und wichtigtuerische Bürgerschaftsabgeordnete teil, und das Ganze wurde von ein paar Beamten mittleren Ranges vorbereitet. Ich kann mir nicht denken, dass es heute viel anders ist. Wenn du willst, besorge ich dir ein paar Einladungen zu den Veranstaltungen dort. So weit reichen meine Beziehungen noch. Dann kannst du dich selbst davon überzeugen, wie ernst diese Partnerschaft genommen wird.
Bella verzichtete auf die Einladungen, versprach Kranz, ihn anzurufen, wenn er ihr in irgendeiner Weise behilflich seinkönnte, und sie verabredeten sich für die Zeit nach ihrer Rückkehr.
Wie lange willst du bleiben?, fragte Kranz. Ich hab dich vermisst, weißt du?
Er lächelte, und auch Bella lächelte, weil sie beide wussten, dass sie das Gleiche dachten: Das Leben ist auch ohne dich interessant gewesen, aber vielleicht würde es ein wenig schöner werden, wenn wir uns wieder regelmäßiger sähen.
So war es jedes Mal, wenn sie sich nach längerer Zeit wiedertrafen.
Am Abend vor ihrer Abreise, immer noch zweifelnd, ob Marseille gerade zu dieser Zeit das richtige Ziel wäre, machte Bella einen Spaziergang um die Binnenalster. Luxushotel, Luxuskaufhaus, Luxusläden, Luxus-Jungfernstieg (wenn die Hamburger frankophil wären, dachte sie, anstatt englisches Understatement zu bevorzugen, würden sie diese protzig umgestaltete Straße nun »Boulevard« nennen). Am Ballindamm Luxusbüros und die Niederlassung der HSH-Nordbank: »Größter Schiffsfinanzierer der Welt«. Während in den Zeitungen ein UN-Bericht der Welt ein »Hungerjahrhundert« voraussagte, gab sich Hamburg alle Mühe, als europäische Millionärshauptstadt zu glänzen.
Nichts gegen Luxus, dachte Bella. Aber wenn für die armen Leute nichts übrig bleibt … Und dann: Du denkst Unsinn, Bella. Es gibt nur Luxus, weil für die armen Leute nichts übrig bleibt.
Als Kontrastprogramm beschloss sie, ihren Spaziergang mit einem Gang durch das Karolinenviertel zu beenden. Auf dem Weg dorthin sah sie mehrere Plakate »Hamburg –
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