Tod in Marseille
Marseille, Partner seit 50 Jahren«. Eine Reihe von Veranstaltungen wurde angekündigt, seltsam langweilige, die den Eindruck erweckten, als sei es eher ein Pflichtprogramm, das da abgearbeitet wurde. Ob das in Marseille ähnlich war?
Bella hatte sich in den letzten Wochen eingebildet, Marseille zu kennen, obwohl sie noch nie dort gewesen war. Nach Seghers’ Transit hatte sie ein uraltes Exemplar des Grafen von Monte Christo hervorgekramt, weil sie sich an das Château d’If erinnerte, das vor der Küste von Marseille lag und in dem Roman eine Rolle spielte. Aber immer noch am meisten hatte sie die Marseille-Trilogie von Izzo beeindruckt, und abgestoßen war sie von einer Passage aus Walter Benjamins Städtebildern :
Marseille – gelbes, angestocktes Seehundsgebiss, dem das salzige Wasser zwischen den Zähnen herausfließt. Schnappt dieser Rachen nach den schwarzen und braunen Proletenleibern, mit denen die Schiffskompanien ihn nach dem Fahrplan füttern, so dringt ein Gestank von Öl, Urin und Druckerschwärze daraus hervor … Das Hafenvolk ist eine Bazillenkultur; Lastträger und Huren menschenähnliche Fäulnisprodukte.
Eine seltsame, vielleicht mit der bürgerlichen Herkunft Benjamins zusammenhängende Faszination für Huren und Hurenviertel ging von seinem Text aus, die nach ihrem Verständnis nicht zu einem Mann der Aufklärung passte. Benjamin 1929, Seghers 1941, Izzo 1998 – kein Wunder wohl, dass Izzo sie am gründlichsten auf die Stadt eingestimmt hatte.
Das Karolinenviertel: Sie war lange nicht dort gewesen und sah nun, dass auch hier inzwischen die übliche Verwandlung stattfand. Die ersten kleinen Luxuslädchen waren aufgetaucht. Die Kneipenbesitzer gaben sich Mühe, ihre Räume ordentlicher aussehen zu lassen. Die Dealer benahmen sich diskreter. Ein paar sehr schicke Büroschilder waren schon an den Hauseingängen angebracht worden – vor zehn Jahren hätte man die wahrscheinlich über Nacht wieder abgerissen. Deprimierend, das Ganze. Bella machte kehrt.
Vor einer Eckkneipe an der Feldstraße hielt sie noch einmal an. Die Tür stand offen, drinnen waren nur wenige Menschen.Sie trat ein, setzte sich an die Theke und bestellte ein Glas Weißwein. Die junge Frau hinter dem Tresen, vielleicht zwanzig Jahre alt, mit zwei kurzen, vom Kopf abstehenden blonden Zöpfen und dem Profil der Uta von Naumburg, sah sie verwirrt an.
Weißt du, eigentlich trinkt man hier Bier, sagte sie.
Im Hintergrund an der Wand sah Bella eine Art Altar zu Ehren des FC St. Pauli.
Aber ich kann gern versuchen, eine Weinflasche zu finden.
Nett von dir, sagte Bella. Ich warte dann einfach so lange, bis du eine gefunden hast.
Ein paar Plätze weiter am Tresen saß ein Mann, der so offensichtlich Kummer hatte, dass Bella befürchtete, er könnte sich vor die U-Bahn werfen, wenn er sein Bier ausgetrunken hätte. Später – es dauerte eine Weile, bis Uta von Naumburg den Wein gefunden und die Flasche geöffnet hatte (beim Öffnen der Flasche half ihr eine Frau, die ganz am Ende des Tresens stand und sich als gelernte Barfrau vorstellte) – wurde er heiterer. Offenbar brauchte er einen gewissen Alkoholpegel, um seine Leichenbittermiene verschwinden zu lassen.
Ich bin nämlich neu hier, sagte Uta von Naumburg irgendwann. Da lächelte der Trauerkloß schon.
Bella sah durch eine große Fensterscheibe hinüber auf den Bunker am Heiligengeistfeld. Eine Menschenschlange hatte sich dort angesammelt.
Die warten auf den berühmten, ach, ich weiß nicht, sagte die gelernte Barfrau, ich vergess den Namen immer. Sieht aus wie ’ne Bohnenstange mit zu kleinem Kopf.
Westernhagen, sagte der Trauerkloß. Der soll da heute auftreten.
Bella zahlte den Weißwein und ging, begleitet von den guten Wünschen der fröhlich zwitschernden Stimme der kleinen Uta und dem gebrummten »Dann mach’s mal gut«, das der Trauerkloß ihr zukommen ließ. Drei Gläser Weißwein hatten offenbar Bindungen besonderer Art geschaffen.
Am Himmel waren keine Sterne zu sehen. Die Schlange vor dem Bunker auf der anderen Seite hatte sich aufgelöst. Ein leichter Regen fiel, so leicht und zart, dass er besser in den Frühling gepasst hätte. Oder nach Marseille, wo es sicher wärmer war. Es wurde Zeit für die Abreise.
Drei Tage später, in einem Straßencafé auf der Canebière, lag Hamburgs Nieselregen sehr weit hinter ihr. Marseille hatte sie mit offenen Armen empfangen. So kam es ihr jedenfalls vor. Sie hatte ein kleines Hotel in der Rue des Petites
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