Tod in Marseille
Maries gefunden, ganz in der Nähe der Bahnhofs St. Charles. Arbeiter, Handwerker, Wirtinnen, Zimmermädchen, heruntergekommene Arbeitslose, alte Männer und alte Frauen, die aussahen, als hätten sie nur eine einzige Mahlzeit am Tag, und junge Mädchen, die Arm in Arm vorbeizogen, waren ihr täglicher Anblick, während sie auf der Straße frühstückte und sich anschließend auf ihren Weg durch die Stadt machte. Nachmittags hatte sie sich, um auszuruhen, ein Café auf der Canebière ausgesucht. Von Ernst Moritz Arndt, der Marseille 1799 besucht hatte, waren ihr ein paar Zeilen im Gedächtnis geblieben, an die sie nun ein ganz klein wenig schaudernd dachte:
Vor der Revolution! O, vor der Revolution, da war Marseille noch etwas. Jetzt sind wir arm und haben über ein Drittel unserer Menschen verloren. So sehr hat die Guillotine und die Gewerbslosigkeit die Stadt entvölkert. Ich schauderte, als man mir auf der Straße de la Canebière erzählte, dort seien zu Schreckenszeiten 600 Männer und meistens die reichsten unter der Guillotine gefallen.
Vielleicht hatte die Guillotine gerade an der Stelle gestanden, an der sie nun im Café saß?
Obwohl die Canebière nicht am Hafen lag, sondern nur dorthin führte, hatte sie den Eindruck, als sei Marseille als Hafenstadt hier besonders präsent. Alle Nationen, alle Sprachen, die unterschiedlichsten Kleider, eine unübersehbare Menschenmenge, die an ihr vorüberzog, wie um zu demonstrieren, dass diese Stadt eine Hafenstadt war, die ihre Arme offen zum Meer ausgebreitet hielt. Wie anders war Hamburg! Würde ein Fremder, der vom Hafen nichts wusste, auf die Idee kommen, sich in einer Hafenstadt aufzuhalten, wenn er über den Jungfernstieg oder die Mönckebergstraße ging? Sicher nicht. In der Rue des Petites Maries liefen manchmal Ratten an den Hauswänden entlang. Mülltonnen wurden zu spät geleert, eine Ladenbesitzerin breitete ihre Stoffe auf der Straße vor dem Haus aus und setzte sich daneben, wunderbar bunt gekleidet, mit einem Turban aus lilafarbenem Samt. Alles war hier lebendig, und auch wenn die Armut unübersehbar war, schien die Stadt ein Herz für ihre Bewohner zu haben.
An diesem Tag war Bella zu Fuß hinauf zur Kirche Notre-Dame de la Garde gestiegen, hatte von dort die Aussicht über die Stadt und den Hafen genossen, war wieder hinuntergewandert und nun rechtschaffen müde. Sie würde ins Hotel zurückgehen, noch einmal Walter Benjamin lesen und dann tief und fest schlafen. Benjamin, weil sie annahm, ihn erst jetzt besser verstehen zu können, weil sie sich nun langsam selbst ein Bild von der Stadt machen konnte.
Sie winkte dem Kellner, einem freundlichen Araber, der zu bedauern schien, dass sie gehen wollte. Im Café waren außer ihr nur noch zwei Gäste, Männer, die dicht an der Hauswand neben dem Eingang saßen und Spielfiguren zwischen sich hin und her schoben, dreißig Tische und die dazugehörenden Stühle standen leer unter den Bäumen der Canebière. Aus dem Strom der Vorüberziehenden hielt niemand an, bog niemand ab, um sich zu einer Pause, einem Bier, einem Wein niederzulassen.
Sie sind arm, dachte Bella. Eine Familie braucht hier mindestens zehn Euro, auch wenn alle nur ein Wasser trinken.
Irgendwann stand sie auf und reihte sich in den Strom der Spaziergänger ein, der schon dünner geworden war, denn der Abend kam. Spontan beschloss sie, bevor sie in ihr Hotel zurückging, noch einmal einen Blick auf jenes Hotel zu werfen, in dem Anna Seghers gewohnt hatte. Um dorthin zu kommen, brauchte sie zehn Minuten, und als sie vor dem Hotel stand, war es beinahe dunkel geworden. Es war zu spät, um noch Einzelheiten wahrnehmen zu können.
Und dann sah sie den Mann, eigentlich nur die Umrisse eines Mannes, der sich an einem Paket zu schaffen machte, das im Rinnstein lag. Ihr Weg führte an ihm vorüber. Sie hatte nicht vor, sich einzumischen in das, was der Mann dort tat. Was immer er gefunden hatte, er würde es vermutlich gebrauchen können. Er aber, ihre Schritte hörend, sah sich um, ließ das Paket im Stich, rannte, so schnell er konnte, davon und verschwand hinter der nächsten Straßenecke.
Bella hatte ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hatte der Mann den Fund seines Lebens gemacht, und sie hatte ihn vertrieben! Wenn sie schnell verschwände, würde er zurückkommen. Sie war sicher, dass er sie von irgendwo beobachtete. Also: Umdrehen und sich entfernen!
Oder stehen bleiben, noch ein paar Schritte auf das Paket zugehen und feststellen, was
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