Tod in Marseille
dort ein Auge zudrücken, aber es gibt auch noch die Konkurrenz. Ich kann nicht lesen und schreiben. Und ich hab manchmal Angst. Man darf aber keine Angst haben, wenn man in diesem Geschäft arbeiten will. René ist tot. Er war ein Freund von Mama Rose. Die Frau, der vor ihr das Geschäft gehört hat, ist tot.
Du hast Angst? Wovor hast du Angst, Fofo?
Fofo schwieg.
Maria-Carmen sah ihn an. Sie sah einen hageren Mann, der vielleicht fünfunddreißig Jahre alt war und dessen Hände, schmale Hände mit langen Fingern und einem billigen Messingring am Mittelfinger der Rechten, leicht zitterten.
Sie haben dich geschlagen, Fofo, sagte sie ruhig.
Fofo stand auf, nahm sein Glas vom Tisch und schüttete die grüne Limonade in den Ausguss. Er füllte sein Glas mit Wodka und kam damit an den Tisch zurück.
Manchmal trinke ich das, sagte er. Mama Rose hat es erlaubt. Und was die Mädchen betrifft, die hier arbeiten: Wir hatten noch keine, die lesen und schreiben konnte. Man muss darauf achten, dass sie Disziplin halten. Die Arbeit, die sie machen, ist sehr anstrengend. Man muss sie wegschicken, wenn sie erledigt sind. Es dauert oft nicht länger als ein paar Monate, bis sie nichts mehr taugen. Wie sollen die ein Geschäft führen? Sie fangen an zu trinken und betteln mich um Koks an. Mama Rose erlaubt es, aber wenn sie damit anfangen, dann wissen wir, dass bald Schluss ist.
Wohin gehen die Frauen, wenn sie von hier verschwinden?
Fofo schwieg wieder, aber seine Hände waren ruhig geworden.
Du musst es mir sagen, Fofo. Wenn ich hierbleibe, muss ich alles wissen. Wohin gehen die Frauen, wenn ihr sie nicht mehr gebrauchen könnt?
Einige verkaufen wir. Es gibt andere Häuser, die billiger sind als unseres. Die nehmen sie uns gern ab. Der Rest kommt in die Razzia.
In die Razzia?
Wir sagen Bescheid, wenn wir die Polizei brauchen. Die kommt dann und holt die Frauen ab. Sie sind illegal hier. Sie werden abgeschoben. Wir sind sie los, und die Polizei kann einen Erfolg vorzeigen.
Er schwieg und sah auf die Straße. Eine Araberin in einem langen grauen Mantel, der nur ihre Füße sehen ließ, ging vorüber. Vielleicht ging sie zur Arbeit: Treppen putzen, Toilettenreinigen, Ware auspacken. Maria-Carmen folgte ihr mit den Augen. Irgendwo musste es Fabriken oder Nähstuben geben, die hässliche graue Mäntel herstellten, die wie Säcke an den Körpern der Frauen hingen. An denen waren weder schöne Knöpfe noch bunte Nähte erlaubt, und sie hatten nur den Zweck, die Trägerinnen unsichtbar zu machen.
Wenn du hierbleibst, sagte Fofo, dann lass diese lächerliche Mama-Rose-Verkleidung. Du bist keine Afrikanerin. Du bist eine Weiße. Du musst dir Respekt verschaffen. Du bist zu jung. Mama Rose wird wissen …
Ja, ja, sagte Maria-Carmen, sie weiß, was sie tut. Genauso wie ich.
Nach dem Gespräch mit Fofo war Maria-Carmen sicher, dass sie bleiben würde. Mama Rose hatte gute und schlechte Tage. Noch überwogen die guten, sodass sie die Aufsicht selbst führen konnte. Aber sie bereitete ihre Abreise vor, und Maria-Carmen half ihr dabei. Geld wurde überwiesen, Medikamente wurden gekauft. Der Arzt, der sie behandelte, wurde bestochen. Er erklärte sich bereit, nach Benin City zu fliegen und nach seiner Patientin zu sehen, wenn es ihr schlechter ginge. Sie übergab die Aufsicht über die Reinigungstruppe an Maria-Carmen und beobachtete sie, als sie mit den Putzfrauen und den Frauen aus der Wäschekammer sprach.
Du bist zu freundlich, sagte sie anschließend. Diese Leute müssen Angst haben, damit sie funktionieren. Sie sind faul und schlampig. Wenn du ihre Unterkünfte sehen könntest, dann würdest du erkennen, dass sie noch nie ein Bett bezogen haben, bevor sie hierherkamen. Das lernen sie hier. Dafür haben sie dankbar zu sein. Wenn man sie richtig behandelt, sind sie es auch. Die wenigsten haben eine Aufenthaltserlaubnis, bevor sie zu uns kommen. Sie haben keine Unterstützung, kein Geld, aber viele Verwandte, die sie von ihrem Lohn durchschleppen.
Sie brauchen die Arbeit, deshalb gehorchen sie. Aber gehorchen ist nicht genug. Sie müssen dir aus der Hand fressen, und das tun sie nur, wenn sie dich fürchten. Dein Vorteil ist: Du bist eine Weiße. Du hast Macht.
Ich bin zu jung, sagte Maria-Carmen.
Mama Rose lachte. Es war fünf Uhr am Nachmittag. Sie war gerade wach geworden und hatte sich das Frühstück ans Bett bringen lassen. Das Tablett mit dem Kaffeebecher und der Müslischüssel wackelte auf ihrem Bauch auf und
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