Tod in Marseille
auf einen Sprung bei Antoine, Belle de Mai, sagte er.
Er wusste, dass er nicht mehr zu sagen brauchte. Antoine saß seit der Schießerei mit ein paar Gangstern, die etwas dagegen gehabt hatten, dass die Jungen sich fast mehr für Fußball als für krumme Geschäfte interessierten, im Rollstuhl. In der Stadt und bei seinen Kollegen galt er als Held. Alle Zeitungen hatten darüber berichtet, dass zwei Marseiller Polizisten einen Fußballclub für Jugendliche in der Vorstadt gegründet hatten und dabei der Drogenmafia ins Gehege gekommen waren. Eine Zeitlang hatten sie danach sogar finanzielle Unterstützung von Privatleuten und aus dem Haushalt der Stadt bekommen. Die Geldquellen waren inzwischen versiegt, und Antoine, der sein Leben aufs Spiel gesetzt und es beinahe verloren hatte, war mehr und mehr verbittert. Vielleicht könnte er Antoine eine Freude machen, wenn er andeutete, dass sie einen neuen Geldgeber gefunden hätten?
Ich hab dir nichts mitgebracht, würde er sagen, du wirst sowieso zu fett. Nur eine frohe Botschaft …
In den Augen von Antoine würde er Ablehnung erkennen, aber auch eine kleine Hoffnung. Bezog sich die Hoffnung vielleicht auch darauf, dass sich an seinem Rollstuhlleben noch etwas ändern könnte? Egal, er würde hingehen und Antoine aus seiner Lethargie holen. Der hing doch an dem Club, noch immer.
Er überlegte, wie lange er Antoine schon kannte. In Belle de Mai waren sie Nachbarskinder gewesen. Sein Alter und der von Antoine hatten in der Zigarettenfabrik gearbeitet. Alle Menschen, an die Julien sich aus seiner Kindheit erinnern konnte, hatten damals in der Friche gearbeitet, auch die ältere Schwester von Antoine. Die hatte er so angehimmelt, dass er nächtelang nicht schlafen konnte.
Was hast du bloß mit dieser Ziege, war Antoines Rede gewesen.
Auch für den gleichen Beruf hatten sie sich entschieden. Dass Kinder von Zigarettenarbeitern Karriere bei der Polizei machen wollten, war damals etwas Besonderes gewesen.
Einmal Prolet, immer Prolet, hatten ihre Väter behauptet.
Die Fabrik gab es inzwischen nicht mehr, und bei der Polizei suchten sie verstärkt Nachwuchs, der sich auch in die schwierigen Viertel wagte. Auch Antoine war ein guter Polizist geworden. Vielleicht wäre dessen Karriere sogar besser gelaufen als seine, aber dann war die Schießerei dazwischengekommen. Antoine hatte aufgehört. Er war nie ein Schreibtischtyp gewesen.
Julien stellte sein Auto in der Rue Jobin ab. In die Gebäude der verlassenen Fabrik waren inzwischen Künstler und Theatergruppen eingezogen. Wilde Malereien zierten die Wände, und Plakate, neben- und übereinandergeklebt, zeigten Veranstaltungen an. Die Idee war gewesen, für die Bevölkerung vor Ort eine Gelegenheit zu schaffen, mit Kunst und Kultur in Berührung zu kommen.
Mag sein, dachte Julien, dass von den Jugendlichen, die hier noch wohnen, einige in die Rockkonzerte gehen. Dass sich von den älteren Bewohnern noch niemand in die Theaterfabrik verirrt hat, darauf würde ich wetten.
Trotzdem war er mit der veränderten Nutzung des Geländes einverstanden. Die Fabrik hatte riesige Ausmaße gehabt. Das Gelände war 120000 Quadratmeter groß. Leerstehende, verfallende Gebäude wären ein idealer Unterschlupf für Gesindel gewesen. Jetzt war dieser Teil des Viertels befriedet. Harmloses Volk, das dort flanierte, tanzte, Theater spielte und quatschte, was das Zeug hielt. Gemeinsam mit Antoine hatte er das alles besichtigt. Sie hatten sich beide davon überzeugt, dass zumindest in dieser Ecke der Stadt Ruhe herrschte. Eine riesengroße ehemalige Lagerhalle diente als Restaurant. Sie hatten sich dort niedergelassen und den Betrieb eine Weile beobachtet. Antoine war so begeistert gewesen von ein paar kleinen Tänzerinnen, dass er für nichts anderes mehr Augen gehabt hatte. Selbst die Ratten, die hin und wieder am Rand der hölzernen Terrasse entlangliefen, hatten ihn nicht gestört.
Was willst du, alle Hafenstädte haben Ratten, aber wir haben Ballettratten.
Das war zwei Tage vor dieser verdammten Schießerei gewesen. Und nun war er auf dem Weg zu dem gelähmten, verbitterten Mann, der noch nicht alt war, aber, wenn er so weitermachte, ziemlich bald an dem Fett sterben würde, dass er sich angetrunken und angefressen hatte.
Nini
In der Nacht, als Bella die alte Frau mit in ihr Hotel genommen hatte, war sie entschlossen, sie am nächsten Tag wieder vor die Tür zu setzen.
War sie wirklich entschlossen gewesen?
Bella musste lächeln, wenn
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