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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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es keine besonders vornehme Gegend war. Und für den Weg in die Fabrik brauchte ich fünf Minuten. Das ist ein Vorteil, wenn die Arbeit zehn Stunden dauert und man anschließend noch was vom Leben haben will. Und dann kommt dieser großsprecherische Idiot, Verzeihung, dieser großsprecherische Strolch und sagt: Was? Hier wohnst du? Du hast doch keine Ahnung, wie schön die Welt ist. Und fängt an, mir von seiner Heimat vorzuschwärmen. Palmen, Gummibäume, Tamarisken. Bougainvillea. Hatten wir auch alles, nicht in Belle de Mai natürlich, aber in den feineren Vierteln, die waren damals schon hübsch dekoriert.
    Er hat Sie neugierig gemacht.
    Neugierig? Gierig! Die Arbeit in der Fabrik war anstrengend. Es gab nichts anderes. Mein Leben war vorgezeichnet. Ich brauchte doch nur die älteren Kolleginnen anzusehen. Die kriegten Kinder und sahen irgendwann aus wie Gespenster. Dagegen Roberto, der sagte:
    Ich hab genug Geld für uns beide. In Molinito gehört mir ein kleines Stück Land mit Bananenpflanzen und eine Hütte. Gut, die Hütte ist nicht groß, aber für uns beide wird sie reichen. Auf den Terrassen kannst du Tomaten und Zwiebeln anpflanzen. Aber die meiste Zeit wirst du in der Hängematte liegen und lesen.
    Lesen! Es gab dann nicht mal ’ne Bibliothek in dem verdammten Kaff, nicht mal einen Laden. Wenn ich etwas brauchte – auch wer den ganzen Tag in der Hängmatte liegt, muss hin und wieder etwas essen, und von den Bananen wurde mir bald übel –, musste ich nach San Sebastián wandern. Das war nicht weit, ein paar Kilometer, aber zurück mit der Kiepe auf dem Rücken wurde ich angestarrt von den blöden Gomeranern, wie das achte Weltwunder, Fremde gab’s da nicht. Das waren die nicht gewohnt. Manchmal ein Segler im Hafen, aber der machte, dass er wegkam, wenn er Wasser getankt und sich mit Proviant versorgt hatte. Die Gomeraner hatten einen Ruf wie Menschenfresser. Das war Quatsch, aber sie waren eben dunkel und klein und schweigsam. Toll für ’ne junge Frau, die das Leben an der Place Cadenat gewohnt ist!
    Ich hab gedacht, ich müsste sterben, als Roberto weg war. Zwei Mal, nur zwei Mal ist er nach Hause gekommen. Dann hab ich ihn nicht mehr gesehen. Kann man ewig trauern? Nein, das kann man nicht. Aber ich, dumme Gans, die ich war, ich dachte, ich könnte. Bis dann eines Tages der Ortsvorsteherzu mir kam. Gomera, das war Spanien, und Spanien war damals Franco. Für die Insel hieß das: sie wurde vergessen. Was die Leute sich nicht selbst organisierten, das hatten sie nicht. Das ist übrigens auch nach Franco noch eine Weile so geblieben. Noch in den achtziger Jahren gab es auf der Insel keine Feuerwehr. Bis bei einem Waldbrand ein paar Touristen verbrannt sind und mit ihnen der Gouverneur von Teneriffa und ein paar seiner Begleiter.
    Der Gouverneur von Teneriffa?
    Ein besonders tüchtiges Exemplar. Der Señor war gekommen, um sich das Feuer anzusehen, das schon seit zwei Tagen wütete und nicht kleinzukriegen war.
    Möchten Sie noch einen Kaffee?, fragte Bella.
    Rede ich zu viel?, fragte Nini zurück.
    Nein. Ich möchte nur, dass es Ihnen gutgeht.
    Keine Sorge, ich pass schon auf mich auf. Wo war ich stehen geblieben?
    Beim Gouverneur.
    Ach, der ist doch unwichtig. Beim Ortsvorsteher war ich. Der kam und hat gefragt, ob ich ein paar Kindern Französisch beibringen möchte. Was für eine Idee! Ich und Lehrerin. Ich kam aus der Fabrik. Ich vermute, dieser Ortsvorsteher konnte selbst kaum lesen und schreiben. Damals gab es keine vernünftigen Schulen dort.
    Keine Schulen?
    Ich sagte doch: Die Insel war vergessen. Das ging so bis zum Tod von Franco und hat sich auch danach nur sehr langsam geändert.
    Ich war mal dort, sagte Bella. Das muss in den achtziger, vielleicht Anfang der neunziger Jahre gewesen sein.
    Jedenfalls hatten die sich im Gemeinderat überlegt, wenn sie ein Hotel bauen und dort Leute arbeiten lassen würden, die Französisch sprechen, dann könnten sie Touristen anlocken. Nini kicherte. Was haben Sie denn auf Gomera gemacht?
    Ich erzähl’s Ihnen irgendwann. Heute sind Sie dran.
    Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Das mit dem Hotel hat nicht geklappt, aber die Kinder haben gern bei mir Französisch gelernt. Ich hatte immer Schüler. Manche wollten weg, andere wollten nur was gegen ihre Langeweile tun. Auf diese Weise hab ich nach und nach die Familien kennengelernt, und irgendwann gehörte ich dazu.
    Und Roberto?
    Ja, der. Das hab ich dann auch erfahren. Ich war die dritte Frau,

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