Tod in Marseille
die er auf die Insel mitgebracht hatte. Die beiden anderen waren Spanierinnen. Die waren schnell wieder abgehauen, als sie merkten, wie der Hase lief. Er brachte seine Frauen in das Haus seiner Eltern. Die lebten schon lange nicht mehr. Es war ein schönes Haus: Kanarischer Baustil, die Decken aus dunklem Holz, bepflanzter Innenhof, sehr hübsch. Wirklich. Kein Wunder, dass er es nicht verkommen lassen wollte.
Die Frauen sollten sein Haus in Ordnung halten?
So hatte er sich das gedacht. Ein Schlitzohr. Wenn diese Häuser nicht bewohnt werden, verfallen sie schnell. Ich bin später trotzdem ausgezogen. Ich eigne mich nicht als Hausbesorgerin.
Bella lachte. Und Maria-Carmen? War die auch eine von Ihren Schülerinnen?
Ninis Gesicht verfinsterte sich. Sie sah plötzlich traurig aus, eine kleine traurige Gestalt in einem viel zu großen Morgenmantel, die sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, als wollte sie unangenehme Gedanken vertreiben.
Ich unterrichte schon lange nicht mehr, sagte sie. Irgendwann habe ich angefangen, Sommerkleider zu nähen. Die Familie von Maria-Carmen ist in San Sebastián bekannt. Die Eltern trinken beide und prügeln sich auf der Straße, wenn sie kein Geld mehr haben. Sie haben ein kleines Haus in der Calle Ruiz de Padron, eins von den alten kanarischen Häusern, die nun langsam verschwinden. Gomeraner, die etwas auf sich halten,pflegen diese Häuschen. Manche streichen sie an, blau oder dunkelrot, sieht hübsch aus, kleine Farbflecken in all dem Weiß. Obwohl mir immer noch die ganz alten Häuser am besten gefallen, weiße Mauern, braune Steine, braune Balken. Maria-Carmens Eltern haben weder das eine noch das andere. Sie lassen ihr Haus einfach verkommen. Da kann die Mutter am Sonntag noch so viel in die Kirche rennen, in die evangelische übrigens, da predigen die bei offenen Türen und so laut, dass die Mutter die Predigt auch zu Hause im Bett hören könnte. Ihr Haus liegt nämlich gleich gegenüber. Stattdessen rennt sie hin und wirft ihren letzten Cent in den Klingelbeutel. Und wenn das Gesinge und Gebete vorbei ist, steht schon der Alte vor der Tür, um ihr eine zu kleben. Pack. Das Mädchen konnte einem leidtun. Die Häuser sind nämlich klein, müssen Sie wissen. Da ist es nicht so einfach, einem geilen Vater aus dem Weg zu gehen, wenn man größer wird.
Wie sind Sie denn zusammen mit ihr nach Marseille gekommen?
Ich wollte, es wäre mir gelungen, ihr das Ganze auszureden. Wahrscheinlich ist es meine Schuld, wenn sie hier unter die Räder kommt. Ich hatte solches Heimweh. Ich dachte, es wäre eine günstige Gelegenheit. Sie hatte doch Geld, mehr, als sie brauchte, und …
Geld? Was für Geld?
Nini schwieg. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Sollte sie reinen Tisch machen? Alles erzählen, von Anfang an? Vielleicht würde es nützlich sein, wenn die Frau, bei der sie untergekommen war und die ihrer Geschichte so interessiert zugehört hatte, auch mehr über Maria-Carmen erfuhr. Sie begann zu erzählen. Bella hörte zu, fragte nur manchmal, wenn ihr etwas unklar war, und hütete sich, einen Kommentar abzugeben, als Nini geendet hatte.
Sie sagte nur: Danke. Nun wollen wir uns anziehen, und Sie zeigen mir Belle de Mai, und dann sehen wir weiter.
Nini sah sie dankbar an und stand auf, um ins Nebenzimmer zu gehen. Auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um.
Jetzt geht es mir besser, sagte sie. Hoffentlich hab ich nun nicht bewirkt, dass es Ihnen schlechter geht. Sie sehen so ernst aus.
Machen Sie sich keine Sorgen, lächelte Bella. Ich hab schon ganz andere Geschichten gehört. Ich bin hart im Nehmen.
Nini verließ das Zimmer. Toll, Bella Block, du bist hart im Nehmen! Gib wenigstens zu, dass du nicht damit gerechnet hast, in so eine Geschichte zu geraten, als du die alte Frau aufgesammelt hast. Das riecht nach Mord und Totschlag. Unmöglich, sie jetzt allein zu lassen. Die ist imstande, sich mit den Banditen einzulassen. Wenn sie die findet. Seit Tagen ist sie auf der Suche, und nur ihre inzwischen völlig unzureichenden Ortskenntnisse haben sie davor bewahrt, in den richtigen Gegenden zu suchen. Aber wo ist die richtige Gegend für ein Bordell mit schwarzen Frauen? War es noch immer so, wie sie es bei Pavese gelesen hatte?
In Marseille … gehen die vornehmen Damen am Hafen in die Freudenhäuser und bezahlen dafür, sich hinter einem Vorhang verbergen zu dürfen.
Wen sollte sie fragen? War es möglich, dass Nini in Belle de Mai Bekannte traf, die man fragen
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