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Tod in Marseille

Tod in Marseille

Titel: Tod in Marseille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Gercke
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sie an den Morgen zurückdachte, der auf die erste gemeinsame Nacht gefolgt war.
    Sie lag noch im Bett, lesend, wie immer am Morgen. Kurz vor ihrer Abreise aus Hamburg war ihr in einem Antiquariat ein Buch mit dem Titel Die Provence – Morgensegel Europas in die Hände gefallen, in dem auch Reiseberichte über Marseille enthalten waren. Sie hatte das Buch gekauft, eingepackt, vergessen und zufällig in einer Reisetasche gefunden, als sie nach einer Zahnbürste für die alte Frau gesucht hatte. Nun hatte sie gerade staunend gelesen, wie Josef Roth 1933 die Stadt erlebt hatte:
    Aber Marseille ist eine Welt, in der das Abenteuerliche alltäglich und der Alltag abenteuerlich ist. Marseille ist das Tor zur Welt. Marseille ist die Schwelle der Völker.
    Das konnte sie, wenn sie daran dachte, wie die Menschen ausgesehen hatten, die auf der Canebière an ihr vorübergegangen waren, und wenn sie an das Abenteuer dachte, auf das sie sich am Abend vorher eingelassen hatte, auch noch für heute bestätigen.
    Dann war Nini ins Zimmer gekommen, mit zerstrubbelten grauen Haaren über dem runzligen braunen Gesicht und in Bellas Morgenrock gewickelt. Den hatte sie auf so raffinierte Weisemit dem Gürtel verkürzt, dass es schien, als wäre er für sie gemacht.
    Wenn man so dürr ist wie ich, kann man eben alles tragen, sagte sie, als sie Bellas prüfenden Blick wahrnahm. Es sollte trotzig klingen, kam ihr aber ziemlich kleinlaut über die Lippen.
    Wir werden frühstücken und dabei in Ruhe beraten, was zu tun ist, sagte Bella, und Nini stimmte erleichtert zu.
    Ninis Frühstück bestand aus drei Bechern Kaffee und einem halben Croissant. Danach schien es ihr gutzugehen.
    Sie sieht plötzlich kampflustig aus, dachte Bella. Dabei ist das gar nicht mehr nötig. Was hindert mich daran, mit der alten Frau gemeinsam ein paar Tage nach dieser jungen Frau zu suchen? Nichts. Und außerdem werde ich ein gutes Gewissen haben, weil ich eine gute Tat tue, und das wird mich zufrieden stimmen.
    Ich denke, Sie sollten hier bei mir bleiben, sagte sie. Wir werden uns gemeinsam nach Ihrer Freundin umsehen. Aber vorher möchte ich, dass Sie mir etwas mehr von sich erzählen. Man muss doch wissen, mit wem man es zu tun hat.
    Nini starrte Bella überrascht an. So einfach sollte sich ihre verfahrene Situation zum Besseren wenden?
    Ich warne Sie besser vorher, sagte sie. Abends brauche ich Gin. Mein Gepäck ist weg, und ich habe kein Geld. Ich kenne mich hier nicht mehr aus. Marseille hab ich zuletzt vor fünfundsechzig oder sechzig Jahren gekannt.
    Erzählen Sie mir davon, sagte Bella.
    Erzählen, erzählen, das kann man nicht erzählen, das muss man gelebt haben.
    Ich weiß, dass Sie es können. Es ist meine Bedingung dafür, dass wir zusammenbleiben, bis wir Ihre Freundin gefunden haben. Wie heißt sie eigentlich?
    Maria-Carmen, murmelte Nini, Maria-Carmen Herera. Sie schwieg und schien zu überlegen.
    Also zuerst über mich und dann über Maria-Carmen, und dann gehen wir los?, fragte sie.
    Bella nickte und versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Die alte Frau hätte es missdeuten können.
    Dann gehen wir zuerst nach Belle de Mai. Ich hab ihr davon erzählt. Sie kennt sich in Marseille nicht aus. Vielleicht ist sie dort … Nini sprach nicht weiter, und Bella spürte ihren Zweifel.
    Der Reihe nach, sagte sie, zuerst Ihre Geschichte.
    Da gibt es nicht viel zu erzählen. Arbeit in der Zigarettenfabrik, nachts am Alten Hafen, aber nur am Sonnabend. In allen Ehren! Viel verdient haben wir nicht, aber wir hatten es immerhin nicht nötig, uns auf der Straße anzubieten. Die Kerle konnten das natürlich nicht wissen. Für die sahen alle Frauen gleich aus in der Nacht. Wir haben uns einen Spaß daraus gemacht, sie zum Narren zu halten. Bis Roberto kam. Der hat sich einen Spaß daraus gemacht, mich zum Narren zu halten.
    Sie haben sich verliebt! In einen Matrosen, stimmt’s?
    Na klar, auch wenn »verliebt« vielleicht nicht das richtige Wort ist. Plötzlich konnte ich nicht mehr leben ohne ihn. Er fuhr die Strecke Marseille–Algier, das ist nicht besonders weit. Aber immer wenn er weg war, wurde ich krank. Als er zum dritten Mal an Land war, immer alles ganz regelmäßig – ich weiß nicht, was sie transportiert haben, manchmal auch Waffen und Soldaten, glaube ich –, hab ich ihn nach Belle de Mai, mitgenommen. Meine Familie wohnte an der Place Cadenat. Da war immer Leben, jede Menge Händler und so viele Kinder. Ich hab da nie was vermisst, auch wenn

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