Tod in Marseille
trug ein Netz mit Gemüse in der Hand. Sie sah nicht so aus, als hätte sie es eilig. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stand ein Mann, der zu ihnen herübersah.
Vielleicht hat der da drüben Sie erkannt?
Unmöglich, sagte Nini. Als der geboren wurde, war ich schon weg. Sieht gut aus, der Junge. Vielleicht meint der Sie?
Na ja, sagte Bella, jung? Fünfundvierzig, würde ich schätzen, Irgendetwas an uns scheint ihm zu gefallen.
Hinter ihnen erschien der Wirt und brachte den Gin für Nini und ein Glas Rosé für Bella. Er winkte dem Mann zu und ging wieder hinein.
Was trinken Sie denn? Hier kann man keinen Rosé trinken, nicht in solchen Buden. Rosé ist immer schwierig, Weißwein ist ehrlicher.
Sollte sie Nini erklären, weshalb sie beschlossen hatte, in Marseille nur Rosé zu trinken? Warum nicht.
Ich hab ein Buch gelesen über Ihre Stadt, sagte sie. Die Zeit um 1940 wird darin beschrieben. Die Frau, die das Buch geschrieben hat, war damals hier. Sie war auf der Flucht vor den Nazis. In dem Buch gibt es eine wunderbare Stelle, in der sie über den Zusammenhang von Rosé und Melancholie schreibt.
Deshalb trinken Sie das Zeug. Schlimme Zeiten damals. Die armen Menschen. Ich seh das alles noch wie heute. Am Quai du Port, den hatten sie damals nach Marschall Pétain benannt, stand eine lange Reihe von Straßenbahnen. Die Menschen trugen in Koffern und Kisten, was sie schleppen konnten. Es hieß, sie würden evakuiert. Als sie weg waren, haben die Nazis die Quartiere am Alten Hafen in die Luft gesprengt. Meine Mutter hat geweint. Sie wusste nicht, ob ihre Schwester mit ihrer Familie rechtzeitig die Wohnung verlassen hatte. Später sind wir zum Hafen gegangen. Da, hinter dem Quai du Port, lag der größte Schuttberg, den ich je gesehen habe. Die Wolke aus Staub und Rauch hat tagelang in der Luft gestanden. Meine Mutter wollte ihre Schwester suchen. Die Deutschen haben uns nicht näher herangelassen. Aber was hätten wir denn auch finden können, wo sie doch alles in die Luft gesprengt hatten. Nichts als Trümmer und Rauch …
Und eine Gruppe von Marseiller Bürgern, die froh war, dass im alten Hafenviertel endlich einmal aufgeräumt wurde.
Bella und Nini sahen gleichzeitig auf den Mann von gegenüber, der unbemerkt herangekommen war und sich in ihr Gespräch eingemischt hatte.
Entschuldigen Sie, darf ich mich vorstellen? Julien Grimaud, hervorragender Kenner der Geschichte Marseilles und kostenloser Fremdenführer. Wenn Sie’s nicht weitersagen. Die offiziellen Fremdenführer haben diese Konkurrenz nicht so gern. Aber ich versichere Ihnen, bei mir sind Sie bestens aufgehoben, wenn Sie etwas über diese Stadt erfahren wollen.
Bella wusste einen Augenblick lang nicht, ob sie lachen oder sich über die ungebetene Einmischung ärgern sollte.
Ich esse hier manchmal mein kärgliches Mittagessen, fuhr Grimaud fort. Ich bin Polizist. Sie wissen ja vielleicht, wie das ist mit unseren mageren Gehältern. Das Geld reicht vorn und hinten nicht. Würden Sie mir trotzdem erlauben, Sie einzuladen? Ich könnte Philippe davon überzeugen, dass er den Rosé herausrückt, den er selbst trinkt.
Bella entschied sich, zu lachen. Grimaud zog einen Gartenstuhl heran und setzte sich neben Nini.
Sie sind Marseillerin, Madame, das spürt man sofort.
Nini war gewonnen. Trotzdem blieb sie misstrauisch. Waren sie und Maria-Carmen nicht gerade erst der Polizei auf der Insel entwischt? Vielleicht hatte man schon Kontakt zu den Franzosen aufgenommen?
Während Julien mit dem Wirt verhandelte, beschloss sie, den Stier bei den Hörnern zu packen. Sie beugte sich zu Bella hinüber, um ihr ihren Entschluss mitzuteilen.
Machen Sie nur, wisperte Bella zurück. Aber dezent, wenn’s geht. Kann sein, diesen Herrn schickt uns der Himmel.
Bevor wir mit Ihnen trinken, mein Herr, beantworten Sie bitte eine Frage: Was tun Sie hier?, trompetete Nini.
Der Gin, den sie schon getrunken hatte, und die Aussicht auf den nächsten hatten sie angriffslustig gemacht. Julien wandte sich ihr zu. Bella empfand sein Gesicht als offen und sympathisch.
Ich hab einen Freund besucht, sagte er, einen Freund, der im Rollstuhl sitzt und mit sich und der Welt überkreuz ist. Ich mag meinen Freund, aber es ist manchmal schwer, seine Beschimpfungen auszuhalten. Ich war deprimiert, als ich ihn verlassen habe. Und dann sah ich Sie beide hier sitzen. Ich bin Ihnen schon einmal begegnet. Sie werden sich nicht daran erinnern, weil Sie sehr mit sich selbst
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