Tod in Marseille
beschäftigt waren. Aber mir sind Sie aufgefallen. Ich habe wohl gehofft, dass ein Gespräch mit Ihnen mich auf andere Gedanken bringen würde. Ich spreche Fremde sonst nicht gleich an. Ich glaube, ich muss mich für meine Aufdringlichkeit bei Ihnen entschuldigen.
Nein, sagte Bella, das ist nicht nötig. Wir sind sehr an einem guten Fremdenführer interessiert. Was haben Sie vorhin über die Marseiller Bürger gesagt?
Ich hab Ihnen nur einen kleinen Einblick in die neuesten Forschungen gegeben, antwortete Grimaud. Inzwischen ist erwiesen, dass die Pläne zur Sprengung des Panier-Viertels damals von der Marseiller Bourgeoisie schon lange entwickelt worden waren. Man hat sich nur nicht getraut, sie umzusetzen. Man hateinfach den Widerstand der Leute dort befürchtet. Da kam die Wehrmacht gerade recht. Man bediente sich der Deutschen, die die Sprengung dann allerdings mit Vergnügen durchführten; eine Übung in Präzision sozusagen, wie man sie nicht alle Tage serviert bekommt. Schließlich sollte das alte Rathaus am Quai du Port stehen bleiben.
Wie 1871, sagte Bella.
Sie haben vollkommen recht. Sie kennen sich gut aus in der Geschichte. Das ist übrigens manchmal so mit Deutschen. Sie schleppen ihre Geschichte mit sich herum, selbst wenn sie in fremden Ländern sind. Sie sind doch Deutsche, Madame?
Ich versteh überhaupt nichts mehr, sagte Nini. 1871! Was war 1871? Und woher wissen Sie, dass meine Freundin Deutsche ist? Lassen Sie uns beobachten?
Julien lachte, und auch Bella konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
1871 haben sich die Franzosen, genauer gesagt die Pariser Bourgeoisie, mit dem angreifenden deutschen Heer verbündet, um die eigenen Landsleute niederzuhalten, antwortete Grimaud. Die Kommunarden wurden von den Deutschen besiegt und von den eigenen Bürgern an die Wand gestellt. Ihre Freundin fühlte sich durch das Verhalten der Marseiller Bürger 1943 an diese Geschichte erinnert.
Wenn es darauf ankommt, verbünden sich die Bürgerlichen auch mit dem äußeren Feind, um die eigenen Unzufriedenen in Schach zu halten. Und dass ich Deutsche bin, wird Monsieur an meiner Sprechweise erkannt haben, fügte Bella hinzu.
Darf ich fragen, was Sie nach Marseille geführt hat?
Bella und Nini sahen sich an. Der Zeitpunkt schien gekommen, sich der Möglichkeiten zu bedienen, die Grimaud ihnen eröffnete. Aber wer sollte ihn einweihen? Und wie? Bella ergriff das Wort.
Wir haben uns zufällig kennengelernt. Ich war auf einem meiner Stadtrundgänge, und Madame Nini war auf der Suche nach ihrer Enkelin.
Nini warf Bella einen bewundernden Blick zu. Die Sache mit der Enkelin war gut. Das ersparte umständliche Erklärungen.
Sie müssen wissen, führte sie das Gespräch fort, bei der kleinen Maria-Carmen handelt es sich um ein besonders abenteuerlustiges Mädchen. Ich hatte ihr die Reise nach Marseille, in meine alte Heimat, versprochen. Daraufhin hat sie begonnen, alles, was über die Stadt in der Zeitung stand, zu sammeln und aufzuheben.
Nini bedachte Bella mit einem Blick, der besagte: Siehst du, ich kann deine Geschichte wunderbar weitererzählen. Bella nickte ihr anerkennend zu. Julien entging die heimliche Verständigung zwischen den beiden nicht. Er wurde aufmerksam.
Wir haben überall gesucht, fuhr Nini fort. Das Problem ist, dass ich zu lange nicht hier war. Die Stadt ist nicht mehr dieselbe wie zu meiner Zeit. Und meine deutsche Freundin kennt sich natürlich noch viel weniger aus.
Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe, Ihre Enkelin zu finden?, fragte Grimaud.
Bella und Nini sahen sich an. Es war geschafft. Nun war nur noch eine einleuchtende Erklärung dafür zu finden?, weshalb sie das Mädchen ausgerechnet in einem Bordell zu finden hofften.
Sie hat einen Artikel gelesen, in dem von einer Schießerei die Rede war. Tagelang hat sie mir davon erzählt. Sie hat sich in immer neuen Varianten über den Mann Gedanken gemacht, der geschossen hatte. Am Ende sah es beinahe so aus, als wollte sie nur seinetwegen nach Marseille.
Julien fand, dass die Geschichte interessanter wurde, je länger die Frauen redeten. Er glaubte inzwischen kein Wort mehr von dem, was sie sagten. Aber weshalb erfanden sie diese Räuberpistole?
Sagen Sie es mir, wiederholte er: Möchten Sie, dass ich Ihnen helfe, Ihre Enkelin zu finden?
Grimaud sah Nini freundlich an. Bella begriff, dass er ihnen nichts von dem glaubte, was sie erzählt hatten. Wie auch? Wäre sie selbst in seiner Situation, würde sie ganz sicher nicht auf die
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